In den letzten Tagen hat mich die Osterzeit stark in ihren Bann gezogen. Die kurze Erholungspause hat gut getan. So gut, dass ich die Freizeit, das schöne Wetter, die Gartenarbeit, alles sehr stark habe auf mich wirken lassen und es sogar genossen habe, diese schöne Zeit ein wenig zu dehnen.
Jetzt aber wieder frisch ans Werk.
Per Telefon habe ich Kontakt mit einem gleichermaßen technik-affinen und technik-kritischen Kollegen auseinanderzusetzen. In unserer Diskussion fiel oft das Wort SAMR. Und damit will ich heute beginnen, wenn ich wieder den (digitalen) „Stift“ in die Hand nehme.
Unter SAMR versteht man ein pädagogisches Modell von Ruben Puentedura. Es ist nun schon über zehn Jahre alt, aber was bedeutet das schon in der Welt der Pädagogen.
Das Modell beginnt bei einer pädagogischen Praxis ohne Technologieeinsatz und geht nun schrittweise vor unter der Frage: was passiert, wenn Medien effektiv den Unterricht bereichern sollen.
Der erste Schritt lautet „Substitution“ (Ersetzung): Technik ist ein direkter Ersatz für Arbeitsmittel ohne funktionale Änderung.
Im zweiten Schritt „Augmentation“ (Erweiterung) stellt die Technik einen direkten Ersatz für Arbeitsmittel dar mit einer funktionalen Verbesserung.
Im dritten Schritt „Modification“ (Änderung) ermöglicht Technik beachtliche Neugestaltung von Aufgaben.
Und im letzten, vierten Schritt „Redefinition“ (Neubelegung) ermöglicht die Technik das Erzeugen neuartiger Aufgaben, die zuvor unvorstellbar waren.
Während in Schritt 1 und 2 die Technik lediglich eine Verbesserung (enhancement) des Unterrichts bringen, ermöglichen Schritt 3 und 4 eine Umgestaltung (transformation) des Unterrichts.
Das Modell ist eine gute Reaktion auf eine meiner primären Befürchtungen: Die Angst davor, dass man moderne Medien nur aktionistisch verwendet und die pädagogische Praxis dabei nicht konstruktiv weiterentwickelt wird. Wollen wir uns das Modell doch anhand eines konkreten Beispiels vor Augen führen:
Während ich in einem sozusagen 0. Schritt völlig bar jeder digitalen Medien einen sagen wir mal qualitativen Unterricht zustande bringe, ist es mir im 1. Schritt möglich, die digitale Welt einfach als Substitut für analoge Mittel auszuwählen. Sagen wir, ich würde normalerweise ein beliebiges Arbeitsblatt mit einem Lückentext austeilen. Ob ich dies nun analog in Papierform mache, oder ob ich den Schülern einen Computer vor die Nase stelle und sage: den Lückentext findet ihr hier, klickt bitte in die Lücken und füllt diese richtig aus: im Endeffekt ist das Digitale kaum mehr etwas anderes als das Werkzeug, welches das Papier schon war. Und ich gestehe, dass die harte Variante meines Vorwurfs genau an dieser Stufe ansetzt. Die meisten Fälle von digitalen Methoden, die ich zunächst wahrgenommen habe, waren tatsächlich kaum mehr als dies. Der Lückentext auf dem PC hat maximal den Mehrwert, dass die SuS einmal an einem PC gesessen haben (oder einem IPad oder einem Handy oder was auch immer). Aber das war es auch schon. Nun regt Puentedura an, dieses Modell sinnvollerweise weiterzudenken.
So kann das digitale Werkzeug Dinge leisten, die das Papier nicht kann. Und dies gilt es zu suchen, zu finden und gekonnt einzusetzen: Nehmen wir wieder unser Arbeitsblatt mit dem Lückentext. Was die Software z.B. leisten kann, ist eine für die SuS unmittelbare Rückmeldung (Fall a) oder eine für die LuL interessante Auswertung (Fall b).
Fall a: So kann nach jeder Lücke ein Feedback erscheinen, das den SuS rückmeldet, hier etwas richtig oder falsch gemacht zu haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass dadurch am Ende „schneller“ unterrichtet werden kann, steigt. Denn man spart sich die basale Besprechung: „Was habt ihr in die Lücken eingesetzt?“ und kann direkt einsteigen mit: „Was haben wir gelernt?“ / „Wo ward ihr überrascht?“ …
Fall b: Lückentexte, die ihren Schwerpunkt auf Rechtschreibung etwa haben, können dem Lehrer eine deutlich schnellere Analyse bieten, auf welchem Lernstand die Klasse ist, vielleicht sogar interessant binnendifferenzieren (eine derartige Variante kenn ich vom LRS-Test des sogenannten LERNSERVERS).
Ich hake hier kurz ein, weil das m.E. große Missverständnis bezüglich digitalen Unterrichtens gerade in der heutigen Corona-Zeit zum Ausdruck kommt: Bis hierhin bedeutete digitales Unterrichten immer, dass man analoge Werkzeuge ERGÄNZT um digitale Werkzeuge, dass man im Zuge dieser Ergänzung Vorteile in den digitalen Werkzeugen wahrnimmt, die einem das Unterrichten erleichtern. Es bedeutete aber noch nicht, dass das Unterrichten völlig neu gedacht wird.
Ich betone noch einmal, was ich in einem Post zuvor schon betont habe: Ich persönlich ziehe einen schülerzentrierten, problemorientierten Unterricht vor, bei dem sich die Lösungsansätze von den SuS ausgehend entwickeln. Mit den bisher betrachteten digitalen Methoden war dies noch nicht möglich. Statt dessen habe ich bei den Beispielen lediglich solche finden können, die sich auf die Unterrichtsphase des Übens oder des Wiederholens bezogen haben. Interessant wird es, wenn die Werkzeuge auch andere bereiche des Unterrichts sinnvoll ergänzen, wenn nicht sogar ersetzen oder neu-strukturieren. Hier sehe ich Phase 3 und 4 als ausschlaggebend:
Denn nun verändert das digitale Werkzeug meinen Unterricht und das ist es, was gerade verlangt wird. Ich wage erneut eine kühne Hypothese: Wir waren in Deutschland bislang durchschnittlich maximal in Stufe 2 angelangt, die Realität forderte von uns aber einen digitalen Unterricht in vielleicht sogar Stufe 4. Wie ich darauf komme? Die meisten KuK, mit denen ich redete, verrieten mir, sie geben vorzugsweise über die digitale Welt Arbeitsaufträge raus, sammeln ein, lesen durch, geben aus. Sie ersetzen also das Medium Lehrer in einem altmodisch lehrerzentrierten Unterricht! Und das meist aus Verzweiflung. Und deshalb gefällt ihnen auch das neue Unterrichten eher weniger.
Ausnahmen gibt es auch, die reden aber (und hier zähle ich mich selbst dazu!) über Methoden der Stufe 2 und bedauern, dass es so problematisch ist, die Schüler selbst etwas entdecken zu lassen.
Wenn nun eine Software existiert, welche ich mit einer Formel füttere, und diese wirft mir die Formel als Grafik aus, ist das nicht weiter beachtlich, im Gegenteil: es nähme Schülern das selbst Zeichnen ab. Wenn die Software nun mir aber anbietet, einzelne Parameter zu verändern, dass ich sehen kann, was passiert, wenn ich auch nur ein Vorzeichen ändere, ich also life dabei sein kann, wenn eine Formel einen Graphen verändert, kann dies durchaus einen Lerneffekt auslösen, wie er mit einer simplen Tafel so ohne weiteres nicht machbar ist.
Alternativbeispiel: Wenn ich die Website von GEO betrachte und dort ein Schiebebild vorfinde, das mir einen Vorher-Nachher-Prozess vor Augen führt, ist das illustrativ und spannender als zwei Bilder nebeneinander auf dem Tisch liegen zu sehen. Wenn ich nun aber spezielle Parameter einstellen könnte, die einen Einfluss auf das Schiebebild haben, wird die Sache interessant: Wie verändert sich die Natur in Deutschland, wenn es auf einen Schlag nicht mehr regnet, wenn es nur 2% weniger regnet, wenn es 10% weniger regnet, wenn es 170% mehr regnet, … etc.
Der Nachteil dieser Gedanken: Es benötigt die passende Lern-Software für genau den Unterricht, den ich gerade bestreite. Und dies, so meine schlimmste Hypothese, ist gerade in den weitgefächerten, flexiblen geisteswissenschaftlichen Fächern ein enormes Problem.
Nehmen wir als mein standardisiertes Extrembeispiel die literarische Analyse und Interpretation. Ich für meinen Teil möchte nicht, dass die SuS nach-lernen, was in einer Standard-Interpretation königlich erläutert wird. Dann bräuchte man meines Erachtens nicht das Werk in der Originalfassung zu lesen. Dann könnte ich eine Interpretationshilfe lesen lassen und könnte ohne Probleme Lückentexte und Quiz-Spielchen zu diesem „Fakten“-Wissen erstellen. Die SuS hätten in Deutsch vielleicht auch weniger Probleme, aber es ginge an meiner Vorstellung von Literatur und der, was das Fach Deutsch zu leisten hat, völlig vorbei.
Das spannende an Literatur ist doch, dass man die eigene Lebenswelt um fremde Lebenswelten erweitert, sich darin wiederfindet, verliert, Parallelen zieht und dies alles und noch viel mehr kann einem keine Erläuterung vorgeben. Das muss alles selbst gefunden und entdeckt werden und zählt für mich zu einer Basiskompetenz des Faches (von meinem Zweitfach Philosophie ganz zu schweigen).
Was ich also von Stufe 3 und 4 erwarte: Dass die Medien mir einen neuen Zugang gewähren, auf deren Grundlage es mir möglich ist, den SuS einen Weg zu zeigen, die Welt der Literatur zu betreten und sich darin zurecht zu finden. Dann, und nur dann, ist die digitale Welt mehr als nur aktionistisch eingesetzt, sprich: als ein Substitut des analogen Mediums. Ob ich auf dem iPad wichtige Sätze unterstreiche oder auf dem Papier, macht keinen Unterschied. Der Unterricht mit digitalen Medien muss also neu gedacht werden. Die Werkzeuge müssen mir einen neuen Zugang bescheren.
Jetzt, da kurzzeitig nur noch mit digitalen Medien unterricht wird, umso mehr.
Pingback: 3 – SAMR in Corona Zeit | Odeon