Sorry Greg, das Leben gibt’s nur Scheibchenweise – (1): Sorry über Instagram

Kollateralarbeit. Das Wort hab ich mit 16 erfunden. Meine Mutter hatte die Angewohnheit, meinen Teenagerfaulenzereien ein hieb- und stichfestes Argument entgegenzuhalten. Sie sagte zum Beispiel: „Greg, du könntest ruhig einkaufen gehen. Das dauert nicht lange. Vielleicht 15 Minuten. Es ist nicht viel, was du besorgen musst. Das meiste haben wir ja.“ Fünfzehn Minuten. Das war die reine Einkaufszeit. Und ja, fünfzehn Minuten hätte ich sicherlich selbst als Teenager zur Verfügung gehabt. ...

Der beste Winter

Der beste Winter, an den ich mich erinnern kann, war der, als ich sieben Jahre alt war. Das ganze Wochenende über war es trüb gewesen. Es hatte über Nacht geregnet. Und nichts, wirklich nichts hatte nach Winter ausgesehen. Bis zum nächsten Morgen. Auf der Straße lag eine zentimeterdicke Eisschicht. Die Luft schmeckte nach nichts als nach Kälte. Der Himmel sah aus wie zementiert und nur ein einzelner Vogel saß drüben auf dem Grundstück der Ullmanns auf dem gefrorenen Kopf eines Holzpfahls ...

Papierflieger: (3) – Perfektion

Liebe Schülerinnen Liebe Schüler, Ich selbst war nie der beste Schüler gewesen. Ich hatte keine Eins im Abitur. Ich war auch nie der Mitarbeiter des Monats in einem meiner Nebenjobs. Ich hab nicht mit summa cum laude abgeschlossen oder zu Hause das Haus auch nur einmal richtig perfekt sauber gekriegt. Ich war nie der sexiest Lehrer alive oder der beste Mann, den meine Frau je kennengelernt hat. In Streitereien hatte ich nicht immer Recht. Beim Streitschlichten von Schülern war ich nicht immer ...

Papierflieger: (2) – geschlossene Augen, geöffnete Sinne

Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Hände glitten in seinen Nacken und ihm kam wieder das erste in den Sinn,was er damals bei ihrem Anblick gedacht hatte: Mit welchen Worten kann man diese Haare beschreiben? Die sanft fließende Bewegung ihrer Haare bei jedem Schritt. Dieses flüssige Hin- und Her. Ein elegantes Gleiten, bei dem das Licht über den Haarglanz in Wellen tanzte. Jetzt wußte er es, jetzt. Als sie sich ganz langsam näherte. Als ihre Hände seinen Kopf ganz bestimmt zu sich herab zog. ...

Wiesbaden: Die Bürgschaft – ein Essay

Das Leben ist doch voller Kuriositäten, nicht wahr? Gestern war man noch Humanist und heute ist man bettelarm. Gestern waren wir noch christlich-sozial und heute, ach heute geht es uns vor unseren Flachbildfernsehern doch ziemlich katastrophal. Man kann ja mal nachrechnen. In Wiesbaden rechnete man jüngst ja auch den Humanismus auf. 40.000 Euro kostet es, wenn man zwei Jahre lang ein anständiger Humanist war. Die Rechnung ist einfach und nicht nur schlüssig, am Ende wird es sogar flüssig sein. ...

Miniatur

Salim rief so laut er nur konnte gegen das Chaos, gegen die Tauben am ausgetrockneten Kugelbrunnen, gegen die „Ballspielen verboten“ Schilder, unter denen zwei dickbäuchige Männer mit Goldketten Zigarillos zogen. Salim brüllte gegen die Frau, die sich einen goldenen Mosaiktisch vor ihr Teppichgeschäft gestellt hatte. Salims Worte gegen die schief endlos lange Fußgängerzone mit dem Liebespaar, das durch Herbstlaub raschelte, als wären sie zwanzig Jahre jünger. Lautstärke gegen die Hunde, ...

Gleichheit und Freiheit

Mitten im größten Gedränge sich einsam fühlen? Das ist ein altes menschliches Empfinden. Spätestens in dem Zeitalter der Industrialisierung begann es. Nicht wegen der Maschinen, die die Menschen zu ersetzen begannen: wegen der Vielzahl an Menschen, wegen des Gedränges. Je enger man zusammenrutscht, je mehr Bewegungsfreiheit verliren geht, desto mehr schafft die Seele sich im Körperinnern Platz. Desto mehr fühlt man in sich selbst hinein und erahnt was dieses Ich doch ein Gleiches ist. Freiheit ...

Hinter der unsichtbaren Ziellinie

Ab einem gewissen Erfahrungsschatz fühlt es sich an, als habe man eine unsichtbare Ziellinie erreicht. Du musst dich jetzt nicht mehr verändern, denkst du. Du kannst von jetzt ab dein Leben einfach auslaufen lassen. Du weißt, es gibt Leute, mit denen du klarkommst und Leute, die nicht mit dir klarkommen. Du brauchst dich nicht mehr so intensiv zu verändern. Du hast dein Leben gefunden. Das nennt sich das Wahre Leben, die Erfüllung. Träume sind nur noch für den Schlaf reserviert. Im Radio läuft ...

Auch Piraten feiern Weihnachten (eine Kindergeschichte)

Der Rote Pirat hasste Weihnachten. Schon seit Jahren hatte er kein Weihnachten mehr gefeiert. Um genau zu sein: seit er mit seinem Schiff, der „Wetterleuchte“, unterwegs war. Die Wetterleuchte war ein großer Neunmaster. Das bedeutet, dass es Sage und Schreibe neun Masten gab, an denen neun riesengroße, schlohweiße und nicht an einer einzigen Stelle geflickte Segel hingen. Auf jeder Mastspitze gab es ein Krähennest, also ein runder Korb, worin je ein Pirat zu sitzen hatte, um den Horizont ...