Charly Villons Brief

Der gute Charly ist auf Weltreise derzeit. Ab und an hat er mir in letzter Zeit eine Postkarte geschickt und meist waren kurze Gedichte und Anekdoten darauf, die er mich bat, ich solle sie doch auf meiner Homepage publizieren. Damals, als er losgezogen ist, hat er gelacht und gesagt, ich soll nur abwarten. Wenn seine Worte, meine virtuelle Bühne nicht begehrter machen würden, dann wisse er auch nicht. Es war ein Spaß. Natürlich ist er von seinen Sachen überhaupt nicht überzeugt. Er hält es sogar für puren Leichtsinn. Echte Kunst, ist er der Ansicht, ist Leben. Es gibt kein literarisches Werk, das für ihn mehr Qualität besitzt als das Leben. Und das vertritt er jetzt mehr denn je, da er auf Reise ist.

Mir gelingt es manchmal auch eine paar Botschaften zu ihm ans andere Ende der Welt zukommen zu lassen. Und diesmal antwortete er sogar:

 

Hi,

du hast mir jetzt alles erzählt und ich frage dich nicht, wie es dir geht. Weil es egal ist. Ich weiß, wie ich mich fühlen würde und wenn ich je einen Bruder gehabt hätte, dann wärst du vielleicht so etwas ähnlich weil wir ähnlich denken und ähnlich fühlen. Nunja, ähnlich fühlen, wenn wir in ähnlichen Situationen wären. Ich bin aber hier gerade in einer Stadt, deren Namen ich nicht aussprechen kann und will. Alles ist voller Scheiße. Die Straßen schwimmen in Kot, die Lehmhäuser sind mit Kot beschmiert, manchmal – sagen die Leute hier – regnet es sogar Kot. Wir sind also nicht wirklich in der gleichen Situation, nichtmal ansatzweise.

Ich musste hier Zwischenstopp einlegen, weil ich mir Geld für die Weiterfahrt verdienen muss. Und in der Scheiße arbeiten, das hab ich vor einem Monat in der Nähe von T* gelernt. Aber dazu ein andermal. Ich will dir etwas zu dem Bild erzählen, das ich beigelegt hab. Siehst du die Familie rechts im Bild? Wie sie grinsen? Der Vater den Arm eng um die Mutter gelegt, das Kind, das zu ihren Füßen spielt und nicht mal wagt, in die Kamera zu schauen? Bei diesen Menschen wohn ich. Er ist selbst ein Zugezogener, er hat eine andere Religion, das macht ihn hier zu einem Außenseiter „par Excellence“, wie du wohl sagen würdest. Er hat hier auf der untersten Stufe begonnen, erzählt er immer. Von unten bis ganz nach oben gearbeitet und jetzt haben sie ein Haus in einer Straße etwas weiter den einzigen Berg rauf, den es hier gibt. Und weißt du, was das heißt? Das heißt weniger Scheiße auf der Straße und viel mehr davon im Kopf. Er bildet sich ein, dass die ganze Welt so schön sauber und ordentlich ist wie sein Haus. Er weigert sich, den Rest dieser Stadt anzusehn und wenn ihn sein Job – er ist etwas ähnliches wie Kurier – einmal nach unten in die Stadt führt, dann erzählt er abends von allem möglichen, nur eben nicht von dem Elend und dem Dreck. Als ob es die Kinder nicht gegeben hätte, die in den Straßennischen kauern oder die Müllberge, die in den Seitenstraßen liegen. Als ob es den Geruch von krankem Mensch nicht gegeben hätte oder der gut gelaunte Leichenbestatter in der einzigen Straße, die nach einer heimischen Blumensorte benannt ist. Nein, viel lieber redet er von der guten Qualität seines Fahrrads. Und wie es ihn durch alle Hindernisse hindurch gebracht hat. Er redet davon, dass sein Sohn einmal stolz sein könnte, wenn er auch einmal ein Fahrrad besitzen wird, so sauber, so zuverlässig und so stabil.

Neulich ist der Sohn zu mir gekommen und hat mich gefragt, warum meine Schuhe immer so schmutzig wären, wenn ich nach Hause komme. Und ich erzählte ihm, dass das von meiner Arbeit kommt. Er wollte wissen, was ich denn arbeite und ich erzählte ihm statt dessen lieber, warum ich arbeite. Dass ich irgendwann wieder weiterreisen will und dass ich mich darauf freue, bald wieder Neues zu entdecken.

„Aber gefällt es dir hier nicht?“

„Nein.“, sagte ich endlich, weil ich – du kennst mich – diesen dummen Fragen von Kindern nicht ewig ausweichen kann. Ich meine: Sie fragen doch, weil sie die Realität wissen wollen. Warum sollte ich ihm also etwas anderes erzählen als genau das?

„Ist es mein Vater?“, wollte er wissen.

„Nein.“, sagte ich.

„Ist es das Haus? Das Bett? Das Essen?“

Ein letztes Mal wich ich aus und sagte: „Die Welt ist groß, Salih“ (so heißt er). „Und weißt du, überall gibt es Hoffnung auf der Welt. Da wäre es doch dumm, wenn ich mir nicht anschauen würde, wie es anderswo ist.“

Das alles nur wegen der Scheiße an meinem Schuh, kannst du dir das denken? Ein kleiner Junge, der noch nicht einmal seine eigene Stadt wirklich gesehen hat und nicht wirklich verstanden hat, was um ihn herum passiert und er fragt mich, warum ich nicht einmal irgendwo bleibe und dann erzähle ich ihm und male ihm mit Worten ein paar Bilder in den Kopf hinein, von den Türmen von New York und von der großen Wüste und dass es Länder gäbe mit Krieg und Hunger und Verfolgung. Und da sagte er: „Wenn jedes Land etwas hat, was hat es denn hier?“

Und da gab es ja nur diese eine Antwort. Nicht wahr? Ich hätte ihm sagen müssen, dass es hier nur Scheiße gab. Aber ich sagte ihm: „Das weiß ich noch nicht. Deshalb bleibe ich ja noch hier. Und erst, wenn ich es weiß, dann werde ich weiter ziehen, ok, Salih?“

Sein Vater war nicht froh. Er wollte nämlich nichts davon hören, dass Salih am nächsten Tag fragte, warum sein Vater immer nur vom Fahrrad aber nie von der Stadt erzählte. Und der einzige, der wirklich einen Fehler machte in dieser Geschichte, das war der Vater. Weil der nur wieder vom Fahrrad anfing zu erzählen und davon, wie stolz er auf das Rad war und auf die Qualität dieses Fahrzeugs, das ihn treu bis zum Lebensende fahren würde. Denn da sah man in Salihs Augen dieses eine kurze Aufflackern, mein Freund. Man sah, wie er noch lange nicht verstand, aber doch immerhin zu begreifen begann. Und deshalb stellte er sich etwas später ans Fenster. Und er starrte nach draußen, starrte durch das Glas und durch die saubere Straße vor der Haustür und durch die Mauern der anderen Häuser hindurch auf diese Welt, die ihm verborgen war.

Glaubst du, dass dieses Jucken in meinen Füßen ansteckend ist?

Es würde mir wehtun, wenn er eines Tages auch einfach auf und davon geht.

Ich frage mich nicht, wie es wohl dem Vater ergehen wird. Ich frag mich, wie es ihm ergeht. Und weißt du warum? Weil ich keinen Vater habe, der zu Hause auf mich wartet. Da wartet niemand. Du wartest vielleicht, Bruder. Aber sonst niemand. Deshalb denke ich nicht über Salihs Vater nach, sondern über Salih und frage mich, ob er glücklich sein wird, wenn seine Füße eines Tages nicht mehr aufhören zu jucken.

Aber du hast mir ja deine Geschichte erzählt. Und deshalb weiß ich, was du dich fragst bei meiner Geschichte.

Ob der Junge glücklich sein wird, wenn er eines Tages in einem sauberen Haus wohnt, ein ordentliches Fahrrad hat, in einer Stadt, die nicht voller Scheiße ist und sein Vater ihn fragt, warum er denn nie mit dem Rad so wie er durch die Stadt fährt.

Und in deiner Version der Geschichte wird Salih sich fragen, ob sein Fahrrad wirklich so gut ist, weil er ja nie durch die Scheiße fährt und deshalb das Rad nie testet.

Und in deiner Version, mein Freund, stellt sich überhaupt die Frage, ob Salih einen Vater hat, nicht wahr?

Du stellst ganz andere Fragen, Bruder.

Aber wenn wir beide ganz ehrlich sind, dann lauten die Antworten gleich:

Die Stadt ist noch immer voller Scheiße.

Und die Welt ist groß und Hoffnung gibt es über-, überall. Ich lieb dich, Bruder!

 

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