Der Brennnesselsommer (1/2)

Inspiriert von wahren Begebenheiten

 

Direkt hinter meinem Elternhaus begann die große unerforschte Weite.

Und als Ben sie zum ersten Mal sah, war er nicht mehr zu halten gewesen.

Bei seinem zweiten Besuch hatte er bereits seine Machete dabei und bei seinem dritten stand er vor der Haustür in kompletter Uniform. Er war ein militärbegeisterter Junge, der das Strahlen in die Augen kriegte, wenn irgendwo etwas auch nur entfernt nach Uniform aussah. So komplett in grünem Camouflage, mit der Machete an der Seite und einem Seil über der rechten Schulter, marschierte er mit mir los. Wir verließen den Garten, stiegen über den kleinen, im Sommer immer ausgetrockneten Bachlauf und dann unter der Autobahn durch raus auf die Felder wo auch die Wälder begannen.

Wenn ich mit Ben unterwegs war, dann verließen wir oft die normalen Wege und schlugen uns querfeldein. Er erzählte mir Kriegsgeschichten, so als wäre er selbst dabei gewesen, aber in Wahrheit gab er nur ein paar Stories wieder, die er aus Büchern oder Filmen hatte. Er sang Marschlieder, die aus amerikanischen Filmen stammten. Dann machte er Geräusche wie der eine Typ aus Platoon sie immer machte. Und ich sagte: „Jawohl, Herr Kaleun!“, was die Kurzform von Kapitänleutnant war, wie ich aus dem Film Das Boot von Wolfgang Petersen gelernt hatte.

Überhaupt sprach Ben viel davon, irgendwann einmal auf einem U-Boot stationiert zu sein. Er war begeistert von der Marine und von allen Abenteuern übte Wasser die größte Faszination auf ihn aus.

Aber als ich ihm erzählte, dass es bei uns im Wald irgendwo in der Nähe ein paar verlassene Zweiteweltkriegsbunker geben sollte, war mir klar, dass er mich jeden Tag besuchen kommen würde, bis wir diese halbunterirdischen Trümmerruinen gefunden und erforscht haben würden.

Wir stiegen also bei Wind und Wetter raus. Einmal hatte es so dermaßen in Strömen geregnet, dass ich schon nach zehn Minuten wie der erbärmlichste Straßenköter aussah. Aber Ben erzählte mir, dass es damals in Vietnam nicht anders gewesen sei und seine Fantasie malte für uns beide das unter Wasser stehende Getreidefeld um in ein Reisfeld. Wir schlichen also halbgebückt durch dieses Hundswetter und wenn er mit zum Himmel gereckter Faust rief: „Down!“, warfen wir uns in den Boden, schlossen die Augen und hofften, der Feind würde uns nicht bemerken und einfach an uns vorbeiziehen. Derweil rann das Wasser durch die Hosenbeine hindurch und tränkte ganz langsam und frostig kühl die Unterwäsche.

Der Sommer war sonst aber ultratrocken und jeder war irritiert, woher ich bei diesem Wetter die Triefnase bekommen hatte.

Ich konnte ja schlecht die Wahrheit sagen, dass wir uns vor den Vietkong verdrückt hatten und nur mit ganz viel Glück überhaupt überlebt hatten.

Auf dem Weg zu den Bunkeranlagen gab es aber ein großes Stück ungenutztes Feld. In jenem Sommer standen dort die Brennnesseln mannshoch und als Ben einfach die Arme hochstreckte und hindurchmarschierte, blieb ich zurück.

„Was ist los, Gefreiter?“, bellte er mich an und rümpfte die Nase.

„Ben, ich hab kurze Klamotten an.“, sagte ich, denn an diesem Tag waren es mindestens 30 Grad im Schatten und es stand nicht eine Wolke am Himmel. „Du kannst da ja durchgehen, aber ich wird mir einen anderen Weg suchen.“

„Was willst du dir denn da suchen?“, schnauzte er. „Das ist ein Riesenumweg, wir verlieren Sichtkontakt.“

„Wenn ich da durchgeh, verlier ich Hautkontakt.“, gab ich jetzt genervter zurück und schickte mich bereits an, umzudrehen und einen anderen Weg zu suchen.

„Die Bunker sind direkt dahinten. Komm schon!“, seine Stimme klang wieder normal, nicht mehr wie die von Kaleun Ben Sommers sondern so wie die von Schüler Ben Sommers.

Aber ich war wirklich nicht scharf darauf, für ein Abenteuer, und sei es noch so cool, mit kurzen Klamotten durch dieses Nesselfeld zu waten. Vor allem standen die wie Sträucher so dicht aneinander, es war gar kein Boden zu sehen. Es hätte locker sein können, dass das Feld eine Hanglage hatte und dann wär das brennende Grünzeugs sogar größer als ich gewesen.

„Würdest du durchgehen, wenn du kurze Hosen anhättest?“

Ich sah ihm an der Nasenspitze an, dass er mir schon wieder eine Standpauke halten wollte, dass ich mir auch endlich einen Tarnanzug zulegen solle, die seien äußerst praktisch. Aber ich mochte nicht Mal den Geschmack von ganz normalem Leitungswasser aus seiner muffigen Feldflasche und so wie er da stand, wurde er zwar nicht von den Nessel geplagt, die rings um ihn wucherten, aber die Haare klebten ihm bei diesem Wetter und diesem Outfit schwarz und tropfend in der Stirn.

Zum Glück entschied er sich um. Er sagte gar nichts, kam einfach auf mich zu und stand dann da, zwischen mir und dem Meer aus Brennnesseln.

„Ich trag dich.“, sagte er plötzlich.

„Du machst was?“

„Wir lassen keinen Mann zurück.“, sagte er bestimmt und drehte sich um.

Ich war so dumm, die Idee nicht ansatzweise so schlecht zu finden, wie sie in Wahrheit war. Jedenfalls stieg ich ihm auf die Schultern und er trug mich mitten ins Feld hinein. Er sang jetzt natürlich keine Marschlieder mehr. Er schnaufte und ich glaubte, dass er seine Idee jetzt selbst bereute. Das immerhin gab mir ein wenig Genugtuung. Mitleid hatte ich keines.

Jedenfalls blieb er auf einmal stehen und sagte: „War ne blöde Idee.“

„Ach.“, sagte ich.

„Hätten den Umweg gehen sollen.“

„Sag ich doch.“

„Jetzt ist zu spät.“, meinte er und warf mich kurzerhand rücklings von den Schultern.

Mir blieb gar keine Zeit, um einen Schrei auszustoßen. Ich weiß, dass das Brennen begann, noch bevor ich auf dem Boden landete. Er hatte mich wirklich Mitten hinein geworfen in das Grünzeug und natürlich war er sofort losgerannt. Er rief: „Beeil dich und bleib auf meinem Weg. Ehe sich die Stängel wieder aufrichten.“, dann lachte er total gehässig und war verschwunden.

Ich hatte Probleme allein aufzustehen, weil ich so wenig als möglich die zackigen Blätter berühren wollte. Aber mein T-Shirt war hoch gerutscht, ich spürte wie das Zeug mir über den ganzen Rücken streichelte und ich spürte wie mein Zorn über seinen Verrat die Angst vor weiteren Verbrennungen übertünchte.

Ich rannte was das Zeug hielt hinter ihm her.

Wir fanden die Bunker an diesem Tag natürlich nicht. Aber ich wollte mich auch für den Rest der Woche nicht mehr mit diesem Judas treffen.

Als die Wunden verheilt waren, stand er plötzlich wieder an der Tür. Und er verkündete, er habe die Bunker gefunden.

Für uns war das damals deshalb nicht so einfach gewesen, die Bunker zu finden, weil wir weder Internet noch Handys hatten. Wir hatten nur eine alte Landkarte dabei und ein undichter Kompass, der seit der Regenattacke in dem Vietnamesischen Reisfeld, nicht mehr ganz einwandfrei funktionierte. Wir brachten uns das nach Karte durch Wälder streifen zwangsweise ja selbst bei und da war es klar, dass wir öfter daneben lagen, als dass wir auf das Ziel stießen. Später erklärte mir Ben, dass er den Bunker auf eigene Faust gesucht und gefunden hatte, noch viel später folgte das Geständnis, es sei doch nur Glück gewesen, dass er auf den Bunker gestoßen sei.

Er habe ihn weitestgehend bereits ausspioniert, aber hinein sei er noch nicht geklettert, weil es eine Zweimannmission sei.

Ich musste also wieder mit und diesmal zog ich lange Hosen an, egal wie meine Eltern mich anglotzten und auf die 32 Grad verwiesen. Beruhigen konnte ich sie erst, als ich vor ihren Augen zwei Wasserflaschen auffüllte und mitnahm.

Es war wirklich eine unsägliche Hitze und der Weg war der längste, den wir je gegangen waren.

„Ich geh durch keine Nesselfelder!“, schwor ich ihm und er winkte ab. „Keine Angst. Das war eh die falsche Richtung.“

Er führte mich durch einen Steinbruch und erzählte mir die wilde Geschichte, dass er sich da auch schon abgeseilt hätte. Dann ging es weiter am Rand der Autobahn vorbei, also direkt hinter der Schallschutzmauer und wieder in ein Waldstück hinein, das immer dichter und undurchsichtiger wurde. Bald war es so dunkel, als wären wir mitten in der Nacht aufgebrochen gewesen. Der Boden wurde tiefer, die Bäume höher. Dann fanden wir den alten Bunker. Er ragte nur mit einer dreieckigen Spitze aus dem Boden hervor, wo ein schmales Loch übrig war.

„Die Schweine, die haben ihn zugeschüttet.“, schimpfte er. Dann grinste er aber selbstgefällig und zeigte mir, dass er einen Klappspaten eingepackt hatte. Wir machten uns ans Werk, immer abwechselnd, bis wir den Eingang freigeschaufelt hatten. Dann banden wir das Seil um Bens Hüfte und er zeigte mir, wie ich stehen musste. Das Seil machte einen Bogen um einen nahegelegenen Baumstamm herum und dann stand ich da und hielt mit seinen Handschuhen das Seil fest. Langsam ließ ich ihn ins Dunkle hinab.

„Vielleicht finden wir Skelette.“, rief ich.

„Wovon?“

„Von Wehrmachtsoldaten.“

„So ein quatsch.“, rief er zurück und dann war er auch schon von der Dunkelheit verschluckt. Sicherheitshalber hatten wir mein Walki Talki eingepackt gehabt. Ich hatte meins an der Schulter befestigt, er hatte seins an der Hüfte. Ich sagte:

„Ich weiß, dass hier viel gekämpft worden ist, damals.“

„Quatsch.“, knisterte es zurück. „Und du musst am Ende immer ‚Ende’ sagen.“

Am liebsten hätte ich „du auch!“, zurückgegeben. Aber plötzlich ruckte es am Seil und er sagte: „Bin unten. Mist. Wirf mal die Taschenlampe runter.“

Ich warf sie ihm in die Dunkelheit hinab und er lachte: „Hab sie sogar gefangen. Gut gemacht.“

Tief in mir drin wusste ich, dass wir etwas total langweiliges gefunden hatte, aber ich war noch im besten Alter, um dieses Wissen komplett von der Vorstellung zu überdecken, dass wir doch auf etwas atemberaubendes gestoßen waren. Warum sollte der Eingang des Bunkers wohl zugeschüttet gewesen sein. Ich suchte während Ben sich unten umschaute, den oberen Teil des Bunkers ab. Ich dachte, ich könnte eine Inschrift finden, die vor dem Eintritt in den Bunker warnt. Vielleicht war er einsturzgefährdet, sagte mein Verstand, und meine Fantasie ergänzte: oder verflucht, oder da sind wirklich Tote drin, oder ein Wehrmachtsgeheimnis, ein Nazi-Schatz oder sogar noch alte Waffen.

Auf einmal hielt ich inne und drückte wieder aufs Walki: „Ben! Könnte es hier Minen geben?“

„Du musst ‚Ende’ sagen, verdammt. Ende.“

„Antworte mir: Kann es hier Minen geben? … Ende.“

Es dauerte ein wenig, dann sagte er: „Nee, hier liegt nix aufm Boden, hab ein bisschen mit dem Spaten gescharrt.“

„Du hast was?“

„Gescharrt. Komm runter. Das musst du dir anseh’n. Ende.“

„Und wie soll ich runter, geschweige denn danach wieder hoch? … Ende.“

„Mach das Seil oben am Baum fest. Ende.“

Ich knüpfte es am Baum fest, vertraute meinen eigenen Knotkünsten eigentlich nicht wirklich, aber trotzdem ließ ich mich am Seil dann ab und war wirklich dankbar, als mir Ben in der Dunkelheit ein Signal gab, wann ich abspringen konnte.

Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, weil das einzige Licht von unserer Taschenlampe kam. Aber viel schlimmer war der modrig, staubige Geruch. Wir waren nun mal unter der Erde. Und das Atmen fiel mir wirklich schwer. Ich rang nach Luft und stellte mir vor, wie ich Tausend kleine Sporen einatmete, die kichernd in meiner Lunge nach einem gemütlichen Lagerplatz suchten.

Die Luft war ultra trocken hier unten. Aber die Wände des Bunkers waren glitschig. Der Boden war wirklich eine dicke Staub- und Steinschicht.

Dann zeigte mir Ben, wo wohl früher die Fensterschlitze gewesen sein mochten.

„Die haben den ganzen Bunker zugeschüttet als der Krieg vorbei war.“

„Damit keine Kinder hineinklettern.“, ergänzte ich. Und das löste bei uns beiden eine Gänsehaut aus. Es war die Gänsehaut, die man bekommt, weil man etwas Verbotenes macht und gleichzeitig das starke Gefühl hat, alles unter Kontrolle zu haben.

Tatsächlich hatten wir aber überhaupt nichts unter Kontrolle.

Wir schlenderten da unten rum, packten sogar eine Brotzeit aus, aßen und tranken, genossen irgendwann die Kühle der Luft, fühlten uns überhaupt nicht beengt oder sonst wie schlecht.

Dann tat Ben so, als würden wir angegriffen werden. Er beschrieb sehr eindrücklich, wie der Boden aufspritzte vom Einschlag der Fliegerbomben und dann rief er, wir müssten sofort wieder raus. Raus an die frische Luft. Das war mir recht. Irgendwann begann es einen hier unten zu frösteln.

Er kletterte vor und dann half er mir wieder ans Tageslicht, indem ich diesmal das Seil um die Hüfte gebunden bekam und er mich dann raus zog.

Wir fühlten uns berauscht auf dem Nachhauseweg. Und diesmal rief er mich abends noch einmal an und wir redeten und wiederholten durch unser Erzählen noch einmal die ganze Geschichte.

„Dir ist aber klar, dass wir da noch mal hineinmüssen.“, sagte er am Ende.

„Nee, wieso? Vielleicht gibt es noch ein paar mehr da drüben.“

„Ganz bestimmt gibt es mehr.“, sagte er. „Aber ich hab die Taschenlampe nicht mehr gefunden. Ich glaub, die liegt noch dort drin.“

„Wir lassen keinen zurück.“, sagte ich ernst. Und dann machten wir aus, dass wir am nächsten Wochenende wieder zurückgehen würden. Diesmal noch besser ausgerüstet.

Aber das Glück ist ein unzuverlässiger Zeitgenosse, der dir stumm über die Schulter schaut und nur darauf wartet, von dir ignoriert zu werden.

Und dann schlägt er zu, gnadenlos und unbarmherzig.

Es gibt Augenblicke im Leben, in denen du keine Chance hast, zu gewinnen. Glück und Schicksal sind die zwei Schalen einer Waage. Als wir auflegten, ahnten wir nicht, dass wir unser Glück verloren hatten und das Schicksal mit kalter Hand sich uns annahm.

Fortsetzung hier

 

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