Der Brennnesselsommer (2/2)

Die Freundschaft zwischen Ben und mir war schon etwas eigenartig.

Wir triezten uns gegenseitig, beleidigten uns, teilweise erniedrigten wir uns auch. Ben hatte ein Luftgewehr, einmal schoss er mir damit sogar in den Rücken. Auf große Distanz zwar und es hinterließ nicht mal einen blauen Fleck, aber trotzdem: welche Freunde tun so was? Für all solche Dinge revanchierte ich mich kurz später immer gebührend. Auf sein Luftgewehrangriff folgte ein Tag, an dem wir den Keller seines Vaters aufräumen sollten. Als ich eine Nagelpistole fand, wusste ich, was ich zu tun hatte. Genau wie ich ein paar Stunden vorher, jaulte er jetzt laut auf, nur hielt er mir wochenlang vor, ihm und unserer Freundschaft in den Rücken gefallen zu sein.

Er versteckte in der Schule meine Hausaufgaben, indem er sie an einer Schnur aus dem Fenster baumeln ließ. Ich drehte zehn randvolle Wasserflaschen auf und stülpte sie mit Hilfe eines Bierdeckels kopfüber auf die Sitzfläche seines Stuhls in der Schule. So lange niemand an die Bank stieß, blieb alles trocken, aber ihm fehlte die Kreativität, sich Platz zu verschaffen und anschließend im Trockenen zu sitzen.

Wir kabbelten uns im Sportunterricht, wer die längste Ausdauer hatte, stießen uns gegenseitig in die Hecken, wenn wir auf dem alten Sportplatz zur Osttribüne kamen und lachten am Ende doch wieder über einander. Ich dachte immer, dass das so typisch für Jungsfreundschaften wäre. Wenn man irgendwo etwas über jugendliche Rivalität liest, dann sind das zwar keine Studien über unsere Freundschaft, kommt dem aber sehr nahe.

Als wir uns zum zweiten Mal beim Bunker abseilten, kam mir in den Sinn, dass ich noch keine Revanche zu den Brennnesseln durchgezogen hatte. Und so starrte ich auf ein paar Brennnesselhalme, die sich um einen Baumstumpf wanden, während am anderen Ende des Seils ganz langsam Ben im Dunkel des Bunkers versank.

„Wie weit noch? Ende.“, fragte ich ins Walki hinein.

„Kann nicht mehr weit sein.“, sagte er. „Könnte auch schon springen. Ende.“

„Weißt du“, begann ich. „Ich hatte eben das Gefühl, beobachtet zu werden, du auch? Ich meine – He! Was ist das? Ist das -“, ich brach ab und ließ das Seil los.

Ben stürzte im Bunker nach unten, aber nur, weil er von meiner Aktion überrascht war. Das Seil rutschte ihm hinterher und landete wohl auf seinem Kopf. Er fluchte, schrie und tobte im ersten Moment. Im zweiten allerdings rief er besorgt mehrmals meinen Namen und wollte wissen, ob alles in Ordnung sei.

Er tastete in der Dunkelheit nach der Taschenlampe und rutschte mehrmals ab, dann hörte ich, wie er versuchte, nach oben zu kommen.

Als der dritte Versuch missglückte, tauchte ein Schatten über dem Eingang auf und im nächsten Moment begann es, Blätter in den Bunker hineinzuregnen.

„Was ist das jetzt für ein Scheiß?“, rief er entsetzt und dann folgten zwei spitze Schmerzenslaute.

„Das ist Brennnessel.“, erklärte ich sanftmütig, während ich auf der Spitze über dem frei geschaufelten Eingang saß und lächelte. „Sag mal, vertraust du mir oder hast du immer noch keine Ahnung, was das hier ist?“

Ich hatte mir schon vor Jahren fest vorgenommen gehabt, nichts auf mir sitzen zu lassen. Und als ich jetzt da oben saß und ihn da unten mich verfluchen hörte, dachte ich nur, dass er doch viel harmloser davongekommen sei als ich damals. Weil ich aber auch wusste, dass Ben ein unglaublich schlechter Verlierer war, war ich ihm und all seinen Reaktionen gegenüber misstrauisch.

Irgendwann beruhigte er sich und sagte: „Jetzt komm runter und sieh dir mal das hier an. Wir haben da gestern etwas total übersehen.“

„Glaubst du das ehrlich? Dass diese alte Trick zieht?“

„Kein Trick, Mensch! Ich hab da beim Runterfallen was … gefunden.“

Während ich zu ihm runterkletterte, hielt ich mich selbst schon für ziemlich naiv. Und es hätte mich auch nicht wirklich überrascht, wenn er mich unten in der Dunkelheit vom Seil gezerrt und in den Schwitzkasten genommen hätte. Aber er hatte mich nicht angelogen und ausnahmsweise mir auch keine Falle gestellt, weil er tatsächlich etwas gefunden hatte. Im Sturz wollte er sich wohl an der Wand festhalten und hatte dicht unterhalb des zugeschütteten Eingangs ein kleines Loch freigelegt. Man konnte einen schmalen Schacht erkennen.

„Du hältst das Seil.“, sagte er und ich erkannte, dass er sich das eine Ende um den Fuß gewickelt hatte. „Ich kletter da rein und wenn ich stecken bleibe, ziehst du mich wieder raus.“

„Sicher, dass du da rein willst?“, fragte ich entsetzt. Ich versuchte mir mich vorzustellen, wie ich da durchkroch. Und auch, wenn ich keine Angst vor engen Räumen hatte, da drin hätte ich welche bekommen. Ich sah ihm zu, wie er sich bäuchlings in den Schacht hineinzwängte und mit vorgestreckten Armen vorwärts robbte. Er passte exakt hinein und den Geräuschen nach zu urteilen, war es ein Zwängen und Quetschen. Er redete mit mir, wohl um mich zu beruhigen, aber auch um die Sache zu dramatisieren.

Er sagte mir, dass er mir vertraue. Ohne Vertrauen kann man so was nicht machen. Es wird enger. Aber da hinten ist was, ich kann einen Luftzug spüren. Ich muss da durch. Wer weiß, was da hinten auf uns wartet.

Ich rief in den Schacht, in dessen Dunkelheit ich nicht mal mehr seine Schuhsohlen erkennen konnte: „Und wenn es ein Loch in der Wand ist?“

„Da kommt eine Kurve und es geht etwas nach unten.“, rief er an Stelle einer Antwort.

„Scheiße, Ben, ich kann dich nicht über Kurven an diesem Seil zurückziehen, wenn du stecken bleibst …“

„Dann holst du Hilfe. Wofür gibt es denn Erwachsene? Warum hätten die das alles hier zuschütten sollen, wenn da nichts ist?“

„Weil es verdammt noch mal gefährlich ist für neugierige Kinder, die in jeden engen Schacht hineinkriechen, weil sie nicht erkennen können, wann ein Bunker einsturzgefährdet ist und wann nicht.“

Ich glaubte, dass ich ganz langsam panisch wurde, so als würde die Angst in mir aufsteigen wie ein Grundwasser in einer Höhle. Aber ab einem gewissen Pegelstand wurde das Angstwasser so tief, dass es sich bodenlos in einem anfühlte. Kalt und dunkel, schwarz und abgründig. Das ist für mich die einfachste Beschreibung vom Anfangsstadium von Panik.

Das Seil in meiner Hand war straff gespannt. Aber plötzlich zog etwas am anderen Ende und es rutschte mir nur so durch die Finger in den Schacht hinein. Ich schrie und hätte vor Schreck fast losgelassen. Nur der Gedanke an Ben, der am anderen Ende des Seils wahrscheinlich irgendwo kopfüber baumelte, ließ mich das Seil sofort ganz fest und ruckartig festhalten.

Zu meiner Überraschung schrie Ben vor Schmerz auf und dann hörte ich, wie er sagte: „Lass los, ich bin auf der anderen Seite!“ Dann wurde das Seil locker. Er hatte es bestimmt abgeknotet.

Am anderen Ende des Schachts flackerte eine schwache Ahnung von Licht auf.

„Da ist ein Raum“, erklärte er mir. Dann laut: „Walki!“

Ich schaltete das Walki wieder ein und konnte ihn jetzt deutlich besser hören.

„Hier ist ein Raum. Er ist groß. Das muss der Funkraum gewesen sein. Es stehen sogar noch Möbel hier rum. Tische, Schränke. Ein Spinnt. Ja, es war der Funkraum. Ich werd verrückt. Das glaubst du mir nicht. Und ich hab keinen Fotoapparat dabei. So ein Mist. Ein Funkgerät.“

Ich versuchte mit ihm zu reden, aber er ließ auf der anderen Seite die Sprechtaste nicht los und so konnte ich ihm nur untätig zuhören, wie er alles, was er tat akribisch dokumentierte.

„Ich will versuchen, das Teil wieder zum Laufen zu bringen. Das ist ein richtig altes Funkgerät. Es ist mega verstaubt. Warte, ich folge den Kabeln hier, da drüben, ja, sieh mal an: Ein Generator. Ich könnte hier unten sogar Strom haben! Das ist so ein altes Teil mit einer Kurbel. Ein Notgenerator. Die Dinger sind im Krieg irre praktisch gewesen. Und sie sind es heute …“, eine kurze Pause, dann ein gut vernehmbares Surren. „immer noch! Er funktioniert. Ich hab Strom. Die Röhren am Funkgerät leuchten, ich hab hier unten sogar Licht. Aber ich mach ein paar Lampen aus. Ich will alles Saft auf dem Funkgerät haben. Hier steht noch mehr rum. Ein altes Grammophon mit verbogenem Trichter, ein paar leere Flaschen, wäh, geirrt: da ist Staub drin und ein hässliches Tier. Lass mal lieber beim Funkgerät bleiben.

Mist, das Mikrophon ist auf jeden Fall hinüber. Da hängen überall Drähte raus. Das krieg ich nicht zum Laufen. Aber mal sehen … hier …“, ein Rauschen war zu hören.

Ben hatte es tatsächlich geschafft, den Stromgenerator und dann das Funkgerät zum Laufen zu bringen. Ich hörte sowohl durchs Walki als auch durch den schmalen Schacht, der in die Dunkelheit ragte, das statische Funkrauschen, ab und an durchbrochen von einem schrillen Fiepen, als ob im Äther sich Ratten und Fledermäuse versteckt hielten, die durch das erwachte Gerät, in ihrem jahrhundertealten Schlaf gestört wären.

Der Schauer, der mir über den Rücken lief, als das Rauschen plötzlich erstarb, ist unbeschreibbar. Es fühlte sich an, als würde jemand die Haut auf dem Rücken mit zwei Kurbeln wie auf einer Streckbank glatt ziehen. Die Nackenhaare stellten sich auf und die Enden schienen zu vibrieren. In meinem Magen verklumpte sich alles und ich spürte mein Herz bis zur Kehle hinauf hämmern. Alle Sinne waren bis über ihr gewöhnliches Limit hinaus angespannt. Der Schacht vor meinen Augen schien sich zusammenzuziehen, als blicke ich durch das finstere Innere eines lebendigen, sich bewegenden Wurms. Ich hörte Bens atemlosen Schrei und dass etwas zu Boden fiel. Ich war mir sicher, zu sehen, wie das spärliche Licht in seinem neu entdeckten Bunkerraum aufflackerte. Ein elektrisches Zittern floss durch diesen Gang, als könnten Dunkelheit und Finsternis Strom besser leiten als Metall.

Denn das Rauschen wurde nicht durch Stille unterbrochen, sondern von einer fremden, männlichen Stimme, die „Er ist tot!“, sagte.

Diese drei Worte willst kein Mensch im Leben hören, da bin ich mir sicher. Sie aber in der Finsternis eines alten Bunkers durch ein uraltes Nazi-Funkgerät gesprochen zu hören, dumpf und verzerrt durch klanglich hundsmiserabel verstaubte Lautsprecher, hat eine ganz neue Qualität. Zudem klang die Stimme, als ob jemand einfach nur müde „Guten Morgen“ sagen würde.

„Er ist tot, er ist wirklich tot.“, wiederholte die fremde Stimme aus dem Funkgerät. „Dir zu Ehren, Tom, eine Runde Musik. Warte.“, eine kurze Pause folgte, in der Ben wieder hörbar zu atmen begann.

„Hörst du das?“, rief er zu mir rüber.

„Ja.“, sagte ich, was aber nichts brachte, weil Ben den Sprechknopf einfach nicht loslassen wollte. Ich ging mit dem Mund näher an den Schacht heran: „Ich kann’s auch hören. Du hast Kontakt mit jemandem.“

Und dann hörten wir die Musik.

Eine unfassbar tiefe Frauenstimme, auf und ab leiernd:

Bitte geh nicht fort,

was ich auch getan,

was ich auch gesagt,

glaube nicht ein Wort.

Zwischen den Versen war laut vernehmbar ein Knistern und Knacken zu hören, als ob die Musik selbst brennen würde.

Und dann war es nicht eindeutig zu hören, ob es zum Lied gehörte oder nicht, aber dazwischen hörten wir auch das Schluchzen und zittrige Atmen, das von tiefster Traurigkeit spricht.

Das Lied war kurz aber intensiv.

Ich hatte noch nie gefunkt oder den Klang von alten Funkgeräten gehört, aber noch weniger hatte ich es erwartet hier zu hören. Und dann Musik. Tröpfelndes Klavier und die Männerstimme wieder, die auf einmal „Prost“, sagte. „Auf dich, Tom. Du brauchst nicht lange zu warten.“, und dann ein Geräusch, entweder war es ein lautloses Lachen, das nur von ein gepressten Atmen kam, oder ein Weinen, das den ganzen Körper durchfuhr.

„Kann mich da draußen jemand hören?“, rief die dunkle Stimme.

„Ja, verdammt. Aber du mich nicht.“, rief Ben.

„Mein Name ist Benjamin Jünger.“, sagte er.

Und Ben antwortete, obwohl nur ich ihn hören konnte: „Krass. Wie krass ist das! Gleicher Vorname. Hörst du das?“, rief er jetzt mir zu. „Gleicher Vorname!“

Ich hatte es gehört. Aber auch etwas anderes, nämlich die Art, wie er seinen eigenen Namen ausgesprochen hatte, halb verbittert und halb angewidert.

„Ben!“, rief ich. „Hör zu!“

„Ich sitze alleine an diesem dunklen Ort, habe meinen besten Freund verloren und heute wird der letzte Tag meines Lebens sein. Ich werde mich heute umbringen. Ein für allemal. Und ich habe kein Papier hier, um einen Abschiedsbrief zu schreiben. Ist das nicht fabelhaft? Hört mich einer da draußen? Kann mich irgend einer hören?“

„Verdammte scheiße!“, ich hörte, dass Bens Bewegungen hastiger wurden. „Der will sich umbringen! Hast du das gehört?“

Ich gab es auf, Ben eine Antwort zu geben. Ich konzentrierte mich lieber darauf, jedes Wort zu verstehen, presste das Walki ganz fest an mein Ohr und rückte mit dem anderen Ohr jetzt ganz dicht an den Schacht heran.

„Für den Freitod gibt es keinen Schlüssel fürs Paradies, hat meine Mutter immer gesagt. Aber ich glaube nicht, dass überhaupt ein Schlüssel mit meinem Namen am Schlüsselbrett für mich bereit liegt, Mutter. Nicht nach allem, was wir gemacht haben. Der Schlüssel ist schon längst weg. Unser Jahrgang wird geschlossen in die Hölle einmarschieren. Wir haben die Welt verkauft für ein Laib Brot und eine Flasche billigen Gin. Die hier, die kommt in den Himmel, es wäre eine Schande, wenn eine so schöne Stimme mit uns nach unten wandern würde.“

Und dann kam wieder Musik. Die selbe dunkle Stimme, die diesmal schwermütig über eine Nachtigall sang, setzte nach einem düsteren hellen Frauenchor zu singen an.

„So klingen Engel.“, hauchte der andere Ben durch den Äther. „Sie machen uns immer Glauben, Engel hätten hohe, glockenhelle Stimmen. Aber ich weiß, dass die Engel so klingen. Weil das der wahre Gesang der Seele ist. Nur einmal …“, die Stimme wurde unterbrochen durch das Rauschen und Fiepen des Funks. Und der Ben, den ich kannte, fluchte ohne Ende.

„Ich hab’s verstellt. Ich wollte das Mikrophon reparieren, aber irgendwie muss ich den Sender verloren haben.“, er drehte an Rädern und klickte Schalter um.

„Wir müssen doch etwas tun. Da ist ein Typ, den wir durch Zufall hören können, der kurz davor ist, sich selbst umzubringen. – Ende.“

„Wir können nichts tun.“, rief ich rüber. „Wir können nicht mit ihm reden. Und selbst wenn … wir wissen nicht mal, weshalb er …“

Das Rauschen wurde laut und es rauschte durch die Wurmhöhle in meinen Teil des Bunkers hinein, quer durch meinen Gehörgang bis in die hintersten Winkel des Schädels und zerrte schmerzhaft an den Nervenenden. Ich hielt mir automatisch die Hände an die Schläfen und dann stoppte das laute Quietschen wieder und die Stimme war zurück:

„Ich beichte. Ich habe gesündigt. Ich habe mich vergangen. Ich bin in einen Mann verliebt und dieser Mann ist jetzt tot. Ich habe die Liebe meines Lebens verloren, die ich nie hätte fühlen dürfen. Ich bin verdammt, mein Blut ist verflucht. Und mein Fleisch ist verdorben. Ich habe Anna geheiratet, weil es die richtige Entscheidung war. Ich habe mit ihr zwei Kinder bekommen, die ich über alles liebe.“

Und dann begann er zu beten.

Erst das Vaterunser und dann nahtlos „Heilige Maria Mutter Gottes, bete für uns Sünder.“

„Der Rosenkranz!“, rief Ben. „Hoffentlich betet er ihn ganz. Ich hab’s gleich. Ich brauch aber etwas Zeit.“, es knisterte und knirschte. Er fluchte wieder, ich hörte, wie er zum Generator stürzte und die Kurbel wieder betätigte. Das Rauschen und die Stimme des Suizidgefährten waren dumpfer und leiernder geworden, jetzt ertönten sie wieder laut und klar und deutlich.

„Das sind beschissene Zeitfenster.“, rief er zu mir rüber. „Vor allem, wenn man allein ist. Komm zu mir rüber und hilf mir!“

„Vergiss es!“, schrie ich.

Durch diesen Schacht hätte mich nichts, aber auch wirklich gar nichts durchbekommen. Vor meinen Augen kam das Bild, wie sich Ben durchgequetscht hatte und allein die Vorstellung, wie rund um meinen Körper sich der blanke Stein schmiegte und ich mich hindurchwand und schlängelte, mit keinem rettenden Seil verbunden, löste das Gefühl aus, dass es auch hier im lichtlosen Bunker bereits viel zu eng war. Ich hatte das Bedürfnis, sofort an die frische Luft zu steigen.

Aber das Seil war ja rüber in den anderen Raum gespannt. Ich sah nach oben und erkannte keine Möglichkeit, wie ich mich da hochangeln sollte.

Wofür gibt es denn Erwachsene?

Hatte Ben das wirklich vorhin zu mir gesagt? Seine Vorstellung von Hilfe holen hatte nur einen entscheidenden Denkfehler. Da war die Panik in mir vollendet. Das Grundwasser der Angst hatte seinen höchsten Stand erreicht. Ich war geflutet von der mit der Erkenntnis einhergehenden Furcht, dass wir uns unsere eigene Falle gegraben hatten. Wenn Ben jenseits des Schachtes in einem Raum mit spärlicher Elektrizität eingesperrt war, so lag ich in einem finsteren Erdloch, das einen Ausgang in unerreichbarer Höhe hatte, mitten in einem Wald, der mir in diesem Augenblick unendlich weitläufig und einsam vorkam.

Mir kam die absurde Erinnerung an ein altes Märchen zurück, bei dem ein Wolf in einem Erdloch gefangen, sich nur retten konnte, weil ein Fuchs ihm den rot-weißen Schwanz als Kletterseil nach unten streckte. Wenn mich die Füchse schreien hörten, würden sie allenthalben davon rennen!

Ich flüsterte: „Wir sind gefangen!“, als Ben laut aufschrie.

„Was ist passiert?“, mit einem Satz war ich wieder am Schacht.

Aber Ben gab mir keine Antwort, er schrie: „Hier Ben Sommers, ich kann Sie hören! Verstehen Sie mich! Haben wir gegenseitigen Funkkontakt!“

Er musste das Mikrophon repariert haben, schoss es mir durch den Kopf.

Und wenn ich jetzt rauskäme, dann könnte ich ins Dorf, um Hilfe zu holen, für den selbstmordgefährdeten Benjamin Jünger.

Die Stille legte sich über uns wie ein Leichentuch. Ben rief noch einmal: „Können Sie mich hören?“

„Ja, ich höre dich.“, kam endlich die zögernde Antwort durch den Funk.

„Gott sei Dank.“, flüsterte ich mit der Stirn gegen den kalten Stein gelehnt.

„Mein Name ist Ben. Ich heiße auch Ben. Ben Sommers.“

„Hallo Ben. Schön dich zu hören. Ich bin also nicht allein.“

„Ich habe alles gehört. Tun Sie das nicht.“, rief Ben.

Mir wurde schmerzhaft klar, was ich schon immer gewusst hatte. Ben mochte vieles sein, aber er war weder mit genug Empathie, noch mit psychologischem Feingefühl ausgestattet. Er konnte direkt sein und ehrlich, hart und stolz. Er hatte das Herz mit Sicherheit am rechten Fleck, aber, und an seiner Stimme hörte ich, dass ihm das jetzt auch klar war, er hatte keinen blassen Schimmer, was man sagen sollte, um jemanden davon abzuhalten, Selbstmord zu begehen. Nicht mal, im Entferntesten.

Der andere Ben lachte. „Du klingst wie ein netter Junge.“, stellte der Fremde fest.

„Danke, ich …“

„Und du sagst das, was man sagen muss, wenn man mit einem verzweifelten Mann spricht, nicht wahr? Wie alt bist du, Ben Sommers?“

Als Ben ihm unser Alter verraten hatte, konnten wir das spöttische Lächeln aus seiner Stimme heraushören, obwohl das Knirschen der alten Lautsprecher, den Klang so schwach machte.

„Es tut mir leid, dass du mich hörst oder gehört hast. Du bist jung und du solltest nicht hören, was jemand wie ich zu sagen hat.“

„Ich bin alt genug …“, begann Ben. Aber der andere unterbrach ihn sofort:

„Natürlich bist du das.“, und das viel schlimmer, als wenn er versucht hätte, Ben zu überzeugen oder ihm zu widersprechen. Es bedeutete, dass er Ben nicht ernst genug nahm.

Zu meiner Überraschung fand Ben gute Worte:

„Ich habe noch nie jemanden sterben gesehen“, sagte er, „aber ich habe schon viel über den Tod gelesen. Über Elend und über Verzweiflung.“

Jetzt hörten wir ein Lachen durch den Funk, das den Staub in den Boxen rauschen ließ.

„Über den Tod habe ich auch viel gelesen. Willst du etwas hören, Ben Sommers?

 

 

Es erschreckt uns

Unser Retter, der Tod. Sanft kommt er

Leis im Gewölke des Schlafs,

 

Aber er bleibt fürchterlich, und wir sehen nur

Nieder ins Grab, ob er gleich uns zur Vollendung

Führt aus Hüllen der Nacht hinüber

In der Erkenntnisse Land.

 

Das musste ich in der Schule auswendig lernen, Ben Sommers. Kennst du auch noch Gedichte über den Tod?“

„Nein.“, gestand Ben krächzend.

Während der Fremde ihm etwas über seine Schulzeit erzählte, wandte sich Ben mit dem Walki an mich: „Was soll ich bloß tun? Was soll ich sagen? Ende.“, flüsterte er.

„Erinner ihn an die Menschen, die er zurücklässt vielleicht?“

„Hast du nicht gehört? Seine Liebe ist gestorben. Er ist schwul und hat eine Frau und Kinder.“

„Die Kinder!“, sagte ich hastig. Hatte er nicht gesagt, dass er die liebt?

„Deine Kinder!“, unterbrach Ben ihn hastig. Fast übereifrig.

„Was ist mit meinen Kindern, Ben Sommers?“

„Willst du sie wirklich so zurücklassen?“

„Meine Kinder sind unerreichbar weit weg. Ich weiß sowieso nicht, ob ich sie jemals wiedersehe, Ben Sommers.

Das Leben kann auf zwei Arten laufen, mein Junge. Entweder es erquickt dich, oder es macht dich müde. Entweder du lebst auf oder du verlebst dich. Mein Leben ist auf zweite Art gelaufen, mein Junge. Das waren zum Teil meine Entscheidungen, zum Teil Ereignisse, die mir zugestoßen sind, die daran Schuld sind. Aber es ist wie es ist. Ich beschwere mich nicht, hörst du Ben Sommers. Mein Leben hat mir nur so viel Kraft aus dem Körper und aus der Seele gezogen, dass ich nicht mehr weitermachen kann.

Es gibt Licht und es gibt Schatten. Ich habe zuviel Schatten gesammelt, dass meine Seele selbst nicht mehr leuchten kann.“

Der Fremde war Ben deutlich überlegen. Ich konnte förmlich sehen, wie Ben hinter dieser Wand aus Schwärze nach Worten suchte. Aber der einzige, der Worte fand, war Benjamin Jüngers, eine Stimme aus dem Funk, die nur aus verstaubten Schallwellen bestand. Befreit aus einem uralten Funkgerät, das nur durch ganz viel Glück überhaupt noch funktionierte. Gefangen in einem modrigen Bunker aus dem zweiten Weltkrieg.

„Ich habe gesündigt.“, wiederholte der Fremde erneut. „Und ich bin dankbar, dass jemand auf dieser Welt meine Buße empfangen kann und mich frei sprechen kann. Auch wenn es das Schicksal so gewollt hat, dass du das jetzt bist, kleiner Ben Sommers.

Ich habe gesündigt.

Ich habe begehrt, was wider die Natur ist.

Ich habe genommen, was mir nicht gehörte.

Ich habe genossen, was nicht zum Genusse …“

„Das ist nicht wahr.“, versuchte Ben es noch einmal. „Es ist nichts Falsches daran, dem Gefühl der Liebe zu folgen. Das Leben ist kurz. Wieso sollte man nicht Dinge tun, die einem gut tun. Wieso sollte man nicht der Liebe folgen? Was soll man denn sonst tun, ich meine …“

„Ben.“, er unterbrach meinen Freund mit einer unfassbaren Freundlichkeit in der Stimme. „Ich danke dir.“

Und dann hörten wir das Geräusch, das ein für allemal darlegte, wie Chancenlos die Worte sind, die man spricht.

Wir hörten wie der Knall kam und nicht verklingen wollte. Wie er schallte und über und über den ganzen Raum durchflutete.

Absurderweise konnte dieses Geräusch einer ausgelösten Pistole die ganze Bandbreite an Gefühlen aus meinem Körper entlassen, das Angstwasser floss aus mir heraus und leerte meinen Hals, meinen Brustkorb, meinen Bauchraum. Ich war nur noch erfüllt von einer unfassbaren Leere, einem Schock des Versagens.

„Glaubst du“, hörte ich auf einmal Ben sagen. Aber im nächsten Augenblick hörte ich ein abschwellendes Summen und das weit entfernte Lichtflackern am Ende des Tunnelschachts erlosch. „Glaubst du, er hat es getan?“, fragte Ben.

Ich sagte nichts.

Nach einiger Zeit: „Der Generator geht nicht mehr an. Ich … ich komme zurück, oder?“

Er zwängte sich wieder zu mir zurück und ich half, indem ich am Seil zog, dessen Ende jetzt unter seinen Armen verknotet war.

Bens Gesicht glühte hochrot und war schmutzig vom Staub eines halben Jahrhunderts.

Wir stiegen aus dem Bunker und machten uns auf den Heimweg.

Schweigend, weil wir gerade etwas über Worte gelernt hatten, was man uns bisher immer verschwiegen hatte: Sie sind nutzlos.

Ich habe das später erst gelernt, die Sache mit den Schallwellen und dass wir eigentlich nur die Luft zum Schwingen bringen. Ich habe gelernt, dass diese Schwingungen nie wirklich aufhören.

Man kann ins Weltall fliegen und Radiowellen empfangen von Sendungen, die vor hundert Jahren gespielt worden waren. Als ich das lernte, stellte ich mir vor, wie Benjamin Jünger irgendwo in der grenzenlosen Finsternis da oben immer noch redete. Und wie er erzählte, dass seine Seele nicht mehr leuchten konnte.

Ich träumte, so wie Jungs das eben träumen, dass Ben und ich rausfliegen ins Weltall und diesem Funk hinterher rennen. Wie wir es noch einmal versuchen, mit ihm zu sprechen. Noch einmal versuchen, ihn von seinem Schuss abzuhalten.

Das ist natürlich unmöglich, ich weiß. Wir könnten, wenn wir das wirklich täten, nur hören, wie Ben und Benjamin miteinander redeten, ohne selbst eingreifen zu können. Die Worte sind ja gesprochen und dieser Augenblick ist vorbei. Der unbekannte Fremde ist tot. Erschossen an einem irgendwo auf der Welt.

Wir hatten die Sache übrigens nie gemeldet, weil wir uns nicht trauten zu erzählen, wo wir mit Benjamin gesprochen hatten. Und was wussten wir überhaupt? Seinen Namen und mehr nicht.

Wir trugen die Geschichte also mit nach Hause und sprachen erst Wochen später miteinander darüber. Aber es war eine merkwürdige Stimmung zwischen uns, während wir darüber redeten.

Ben hatte mich am Ende unseres Brennnesselsommers abgeholt, aber wir hatten in diesem Jahr keine Lust mehr, in den Wald zu gehen. Deshalb streunten wir durchs Dorf. Wir zogen die ruhigen Gegenden vor und deshalb kamen wir zur alten Grundschule, die gerade wegen Sommerferien geschlossen war und zum Schützenhaus, das nur aufgeschlossen wurde, wenn die Schützen sich Freitags trafen. Von dort aus ging es auch in einen kleinen Wald, aber der war überschaubar und endete an einer alten verlassenen Villa und dem Friedhof. Wenn wir nicht den selben Weg zurückgehen wollten, sondern lieber über einen Kreis nach Hause zurückkehren wollten, mussten wir über den Friedhof zurück.

Ben erzählte irgendwann wieder, dass er zur Marine wollte, wenn er das Abitur hinter sich hatte. Das sollte nicht passieren. Er war zu groß und hatte ein Problem mit den Ohren, weshalb er zwar zur Marine, aber nicht zu den U-Booten hätte gehen können. Nach dem Abitur wurde er gemustert, er machte die Grundausbildung, lehnte aber aus für mich nachvollziehbaren Gründen ab, zu den Funkern zu kommen; dann schlug er den Weg ein, zur Polizei zu gehen und machte dort bestimmt eine ansehnliche Karriere. Ich habe den Kontakt zu ihm verloren. Aber ich bin froh, dass er wenigstens einen Beruf gefunden hat, der etwas mit Uniformen zu tun hat. Diese Outfits stehen ihm gut zu Gesicht und schmeicheln seinem nicht unerheblichen Stolz.

Wir wurden auf dem Friedhof von einem kurzen Regenschauer überrascht und rannten deshalb zu der einzigen Stelle, wo man sich hier gut unterstellen konnte.

Dort brach Ben plötzlich ab und die Farbe trat aus seinem Gesicht.

Der Stein, an dem wir standen, hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er schlug mit der flachen Hand dagegen und ich sah, dass dort tatsächlich „Benjamin Sommers“ stand.

„Heilige Scheiße!“, entfuhr es Ben. „Das ist sein Name.“

„Nein.“, sagte ich bestimmt. „Das kann nicht sein. Nur ein Zufall.“

Aber die schwarze Angst begann wieder in meinen Körper zu fließen.

Der Regen trommelte auf den rotsandigen Kies zu unseren Füßen. Er tropfte vom alten, grauen Stein des Ehrendenkmals und rann wie Tränen über die Namen der im Krieg gefallenen Söhne der Gemeinde.

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