Die Linde von Kehl (3/4)

Spirenzien.

So sagt man hier, wenn man gewissen Spinnereien folgt und damit Ärger verursacht: Man mache Spirenzien.

Es war schwer, meine Nervosität zu erklären. Mein Vater meinte, ich sei dünnhäutig. Die Großstadt täte mir nicht gut. Und er erzählte den Witz von dem Mann, der an einer Autobahn wohne und immer mit „NeeeeinnnnnnNeeeeeinnn“ antwortete, was sich so anhörte, wie vorbeirasende Autos. So wie man im Hellen nicht depressiv werden könne, so könne man in einer Stadt nicht gesund leben. Es war eine ganz einfache Weltsicht des alten Mannes, der es damit noch nicht einmal bös meinte. Er hatte mir von Anfang an angesehen, dass es mir nicht gut ging. Entweder hatte er einen siebten Sinn dafür oder ich sah schlimmer aus, als ich mir das gedacht hatte. Er verweigerte mir Kaffee auszuschenken, und stellte mir konsequent immer nur irgendwelche Tees vor die Nase. Dann hielt er mir einen Vortrag über die Wirkung von zu fettigem Essen und er empfahl mir, den Tag ruhig anzugehen, bis es Zeit für unsere Einladung sei.

Ich legte mich in mein altes Jugendzimmer und blätterte in Großmutters Buch. Ich sah mir die Bilder der verschiedenen Bäume an und versuchte zu entziffern, was unter Linde geschrieben stand.

Der Baum der Liebe, des Glückes und der Fruchtbarkeit, stand da. Schutzgeist des guten Hausstands. Von alters her Wesensgleich dem Menschen. Dem Göttlichen, Übernatürlichen verleiht die Linde die Gabe der Verletzbarkeit aber auch der Menschlichkeit: verleiht Mitgefühl und Gerechtigkeit. Auch: Omphalos.

Ich schreckte auf, sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Unten standen hochgewachsene brennende Blumen in unserem Vorgarten und auf der anderen Straßenseite saß in einem Hauseingang die Frau mit der blutenden Seite. Sie hatte sich den Schalt um die Hüfte gewickelt und zog jetzt fest zu. Dabei nahm sie das eine Ende in den Mund und versuchte mit den Zähnen den Schal stramm zu halten, während sie mit den Händen etwas am Knoten zu schaffen machte. Plötzlich hielt sie inne und sah zu mir auf. Ihr Gesicht war gequält und im flackernden Schein unserer Feuerblumen, sah ich die Schweißtropfen über ihr Gesicht laufen.

Dann mühte sie sich auf die Beine. Sie knickte bei jedem Schritt ein und natürlich rannte sie auf unsere Straßenseite und in unser Haus. Ich hörte sie, wie sie schwer keuchend bei uns das Treppenhaus hochkam und dann öffnete sich meine Tür und sie stand vor mir.

Das Blut rann ihr aus der Seite über die Beine herab. Sie stand gegen den Türrahmen gelehnt da und sie grinste mich schmerzverzerrt an.

„Arschloch.“, zischte sie. „Wach auf! Sonst musst du dich noch mit mir auseinandersetzen.“

Ich saß kerzengerade in meinem Bett. Das Buch fiel mir aus der Hand und klatschte auf den Boden. Natürlich war alles ein Traum gewesen. Aber ich hätte sonst was darum gegeben, wenn ich gewusst hätte, warum mir diese Geschichte so zusetzte.

Die Familie Sinter zeigte sich recht vergnügt. Wir tranken Wein und aßen ein gutes Essen, dass Frau Sinter – Leo – gemacht hatte. Das Haus war jetzt ganz und gar neu. Mein Vater kam nicht umhin es ständig zu betonen: „Wahnsinn, oder?“, fragte er stolz. „So gar nicht mehr das alte Haus, wie? Man erkennt es nicht mehr wieder. Sag doch auch mal was! Haben wir gut hingekriegt, oder?“

„Wahnsinn.“, bestätigte ich durch Wiederholung.

Ich glaubte zu sehen, dass nur Herr Sinter selbst etwas davon mitbekam wie es mir bei der Sache wirklich ging.

Darum versuchte er auch das Thema zu wechseln. Und was wäre in diesen Zeiten naheliegender gewesen, als über die Krawalle von Hamburg zu reden.

Mein Vater meinte für mich antworten zu müssen: „Er hat zum Glück nichts mitbekommen von all dem. Nicht wahr?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“, machte Sinter mit laut dröhnender Stimme. „Das war doch in der ganzen Stadt spürbar oder?“

„Sie haben Autos angezündet.“, sagte ich. „Auch bei uns in der Straße haben zwei, drei Autos gebrannt.“

„Aber du sagtest doch …“

„Ich weiß nicht wieso, aber die Sache beschäftigt mich.“, gestand ich weiter. Und dann erzählte ich einfach grob die Sache mit der Frau. „Sie saß im Hauseingang, blutete, verband sich selbst und verschwand wieder noch bevor die Polizei auftauchte.“

„Eine Autonome?“, fragte Sinter.

„Keine Ahnung.“

„Stimmt. Sieht man ja nicht.“, machte er nachdenklich. Er wandte seinen Blick direkt auf mich und es war, als versuche er, mich zu lesen. Schließlich war er wohl zu einem Ergebnis gekommen, denn er sagte jetzt: „Es sind gerade ganz viele nervös, glaub mir. Die letzten Jahre durften wenigstens zwei Generationen es sich erlauben, gemütlich zu schlafen. Sie konnten es sich erlauben, Dinge zu vergessen, die nicht vergessen werden durften. Wir konnten es uns sogar erlauben, uns selbst von Bildung und Anstand fernzuhalten und uns auszutesten in einer Gemeinschaft, die sich eine falsche Vorstellung davon gemacht hat, was Vielfältigkeit bedeutet. Wir haben gedacht, Vielfältigkeit sei etwas Großartiges und zwar etwas bedingungslos Großartiges. Dabei haben wir eine wichtige Sache verlernt. Wir haben verlernt, was der Unterschied ist zwischen Gut und Böse. Das Böse ist nämlich das Anders-Denken innerhalb einer aus Werten sich konstituierenden Gesellschaft. Und jetzt laufen in der großartigen Welt der Vielfalt Gute und Böse nebeneinander her und das Böse ruft uns zu: Wir dürfen anders sein. Das gehört zu unserem Selbstfindungsprozess. Verstehst du? Wir haben geschlafen. Und das Böse ist größer und größer geworden. Und jetzt bricht es sich Bahn, wie man so schön sagt. Wir haben keinen Sinn mehr für die Grenze zwischen den beiden Extremen und jetzt brodelt es und tobt in ganz Europa. Was du da in Hamburg erlebt hast, direkt vor deiner Haustür, das kann so ein kleines Brodeln gewesen sein. Und wenn du sensibel für so etwas bist, wenn du einen Sinn für so etwas hast, dann spürst du die tiefere Bedeutung von diesem sich bahnbrechenden Bösen.“, er lächelte am Ende, so als habe er eine Gutenachtgeschichte beendet. „So denke ich jedenfalls.“

Für meinen Vater war das Thema jedenfalls zu ernst und er versuchte es mit einer Beschwichtigung: „Damit schüren wir nur seine Fantasie. Von der hat er immer zu viel gehabt. Empfindlich, das ist gutes Wort. Er ist empfindlich. Auf die ganz unangenehme und ungesunde Art.“

„Vater -“

Er winkte ab.

„Wir sind in die dunkle Jahreszeit gerutscht. Da fängt das Gemüt automatisch an, düsterer zu werden. Nicht wahr, Sinter?“

„Natürlich.“

„Und dieser Raum. Wir haben wie viel Uhr? Fünf? Sechs? Sieben? Es ist so dunkel, als wäre es schon halb elf. Der vermaledeite Baum. Ich sage es immer wieder und ich sage es noch mal: In einem hellen Raum wird man nicht depressiv. Und die Politik war noch nie ein guter Gast.“

Sinter sah noch immer ernst zu mir herüber. Aber er stimmte meinem Vater zu und entschuldigte sich sogar.

Leo schaltete später eine gemütliche Musik ein und überall auf den Fensterbänken brannten Teelichter und Kerzen standen in Windlichtern auf dem Boden und auf dem Wohnzimmertisch. Wir bekamen einen guten Schnaps angeboten. In einem ruhigen Moment fragte Sinter mich, ob ich schon Gelegenheit gehabt hätte, einem Blick in das Buch zu werfen.

„Erst dachte ich, es wäre ein Naturkundebuch, aber das trifft es wohl nicht ganz.“

„Nein, ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll. Aber der Name der Großmutter steht darin und so dachte ich, es sollte zu seiner Familie zurückkehren.“

„Meine Großmutter hat immer gesagt, die jungen Generationen würden den Sinn für die Sachen verlieren. Ich glaube, sie hätte vorhin am Tisch zugestimmt. Wie weit sind wir gekommen, wenn wir vielleicht wirklich nicht mehr den Sinn dafür haben, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden?“

„Ich habe früher oft anspruchsvollere Dinge gelesen“, er sagte das, als wäre es eine Entschuldigung. „Und einmal auch von einer jüdischen Philosophin, die in die USA ausgewandert ist. Sie hieß Hanna Arendt. Und sie nannte das größtmögliche Böse das Vergessen. Weil auf das, was man tut, niemals der richtige Gedanke gerichtet sein kann und ohne die Erinnerung nichts den Bösen davon abhalten kann, Böses zu tun. Warte, vielleicht bekomme ich einen schönen Wortlaut von ihr wieder hin.“, er griff sich mit der Hand so an die Augen, dass er durch nichts von außen abgelenkt werden konnte. Dann brummelte er ein wenig hin und her und schließlich zitierte er: ‚Das Denken an die Vergangenheit bedeutet für menschliche Wesen, Wurzeln zu schlagen und sich selbst zu stabilisieren, so dass man nicht bei allem Möglichen – dem Zeitgeist, der Geschichte oder der Versuchung – hinweggeschwemmt wird.’ So oder so ähnlich.“

„Das klingt sehr klug.“, gab ich zu. „Beeindruckend.“

„Das ist nur halb so beeindruckend, als wenn man es auch wirklich versteht.“, er zwinkerte mir zu. „Ich habe mich jedenfalls immer gefragt, was passieren wird, wenn eine ganze Generation, also wirklich ein bedeutender Großteil einer Gesellschaft, das Erinnern verliert. Wird dann ein ganzes Land ‚hinweggeschwemmt’?“

„Es scheint so.“, meinte ich und erinnerte mich an den Aufstand in der Stadt und an die Bilder und Videos, die ich gesehen hatte, wie es zur Zeit in Spanien aussah. Alte Menschen, die von der Polizei fortgetragen wurden. Schreiende Passanten, die mit brennenden Molotowflaschen nach Uniformierten warfen. Ich fühlte mich dabei so untätig. Wie eine am Rand stehende Figur, vor deren Augen ein größeres Spiel gespielt wurde und jede Figur, eine nach der anderen, ganz egal ob schwarz oder weiß, wurde vor meinen Augen vom Spielfeld geschwemmt. Ich hörte, wie das Thema schon wieder wechselte, aber ich hörte nicht mehr zu. Ich stand am Fenster und starrte nach draußen auf den mit der Nacht verschmolzenen Baum.

Sie stand in der Tür und dann, auf einmal, sackte sie am Türrahmen zusammen, bis sie unten auf dem Boden saß. Sie brachte nur ein Ächzen über die Lippen. Das klang so, als presse ihr der Schmerz die Luft aus den Lungen.

„Komm mal her, Arschloch.“, sagte sie zu mir. Und ich folgte ihrer Stimme. „Mach die Tür zu. Wir wissen beide, dass die Bullen kommen.“

Und ich fragte: „Bist du eine Autonome?“

„Die Antwort war eigentlich sonnenklar. Sie grinste mich schief an und sagte: Ich bin eine Weggeschwemmte. Eine wie du.“

Ich konnte so nicht schlafen. Der Traum war nicht unheimlich oder so. Aber er fühlte sich unheimlich an. Ich ging ins Bad und ließ mir kaltes Wasser übers Gesicht laufen.

Albträume kommen in allerlei Formen, nicht wahr? Wer sagt schon, dass man beim Albtraum immer fallen muss? Immerhin kam Blut vor. Das war ja schon mal was.

Draußen war es noch dunkel. Ich hatte bestimmt keine drei Stunden geschlafen. Und so fühlte es sich auch an. Aber das Bett war jetzt wirklich kein Ort, zu dem es mich zurückzog. Ich zog mich an und schlich mich raus. Die frische Luft hätte mir gut tun sollen. Aber stattdessen ließ sich mich fühlen, als ob ich ein Geist wäre, der durch sein altes Heimatdorf zieht. Ich kannte jeden Winkel hier und kannte ihn nicht. Ich war nicht nur schon lange von hier fortgezogen, ich war auch seit Ewigkeiten nicht mehr nachts hier unterwegs gewesen. Natürlich kam ich zum Haus meiner Großmutter. Ich setzte mich auf die Bank unter der Linde und dachte darüber nach, dass ich wohl der letzte Mensch sein würde, der hier unter dem Dorfbaum sitzt.

„Morgen bist du tot.“, flüsterte ich der Linde zu. „Und das tut mir leid.“

Weil es der letzte Abschied von ihr sein wird.

Es wird schlimmer sein als ihre Beerdigung.

Es wird schlimmer sein als die erste Zugfahrt mit drei schwarzen Koffern raus in Richtung Hamburg. Mein ganzes Leben bestand nur aus Raus, nicht wahr?

Sanft legte sich meine Hand an die nasskalte Rinde und ich ließ meinen Blick über das Geäst und über den Stamm gleiten. Am Ende blieb mein Blick auf dem Stein haften, den der Baum vor Urzeiten verschluckt hatte.

Für einen Grenzstein war er sehr dunkel, fast schwarz. Ich versuchte die Worte zu entziffern. Eigentlich müsste „Kehl“ draufstehen, dachte ich. Und das Wappen der Gemeinde oder so. Aber das, was ich da las, was in einen Kreis eingeschrieben war, hieß etwas anderes. Es lautete: Omphalos. Das gleiche Wort, das in Großmutters Buch gestanden hatte.

„Na denn. Ein letztes Rätsel? Wollen mal sehen.“, ich verabschiedete mich von dem Baum und ging nach Hause zurück. Aber nicht ins Bett. Ich war neugierig geworden und dankbar, dass es etwas gab, worum sich mein Verstand wickeln konnte.

Weil das Internet in Kehl nicht läuft, musste ich mich auf die alte Enzyklopädie meines Vaters verlassen.

Omphalos bedeutete Nabel. Gemeint war der „Nabel der Welt“. Es handelte sich um einen heiligen Opferstein, der in Delphi aufbewahrt wurde. Ein Opferstein der Göttin Gaia. Er markiert die Mitte der Welt. Zeus hatte am äußersten Westen und am äußersten Osten Adler losgeschickt. Sie sollten aufeinander zufliegen. Und in der Mitte der Welt würden sie sich dann treffen. Dort befindet sich die Weltachse, die mythische Verbindung zwischen Himmel, Erde und Unterwelt. Auch im antiken Rom wurde der Omphalos-Mythos fortgesetzt. Der Omphalos-Stein markierte den Nabel der Welt nur noch im übertragenen Sinn. Gemeint waren jetzt die zentralen Versammlungsplätze, die Zentren der Gemeinschaft. Hier wurde Recht gesprochen und über wichtige Entscheidungen der Gemeinschaft diskutiert.

Ich schlug auch das alte Naturkundebuch wieder auf. Und las die Stelle dort noch einmal. Die Linde verleiht Mitgefühl und Gerechtigkeit, nicht wahr?

Dann sah ich etwas anderes, was meine Aufmerksamkeit erregte. In der vorchristlichen Zeit Europas galten die Linden als Versammlungsmittelpunkt. Das musste so etwas Ähnliches gewesen sein, wie ein Thing-Platz. Der Ort der Rechtsprechung, nicht wahr? Die Linde verleiht der Legende nach Mitgefühl. Ich erinnerte mich an das alte Märchen, wo ein Baum kein Glück mehr spendete, weil ein Riese eine Kröte darunter versteckt hatte. Ich erinnerte mich an das alte Lied von Marlene Dietrich.

„Wer hätte gedacht, dass du so mythisch aufgeladen bist?“, ich stellte die Frage zum Fenster hinaus. Dort drüben irgendwo stand er, der schon so viel gesehen und erlebt hatte und der heute fallen würde als wäre es nichts.

(Fortsetzung folgt hier)

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