„Die Handschrift ist das Handwerkszeug der Schule. Ein gutes Handwerkszeug spürt man nicht. Mit einem scharfen Messer kann man mühelos schneiden, mit einem guten Hammer leicht einen Nagel einschlagen. Ist aber das Messer stumpf oder der Stiel des Hammers wackelig, wird das Arbeiten um ein Vielfaches erschwert und die Freude an der Aufgabe geht schnell verloren.“ (Brüning und Clauss: Wer nicht schreibt, bleibt dumm; S. 63).
Das klingt nach einer einleuchtenden These. Und die Tragik: die Erkenntnis ist deckungsgleich mit meinem eigenen Erfahrungsschatz.
Aber fangen wir doch zunächst einmal bei den empirischen Feststellungen an:
Immer mehr Kinder haben eine katastrophale Handschrift. Immer mehr beschweren sich, weil ihnen nach größeren Schreibaufträgen die Hände schmerzen. Oder die Rücken fühlen sich verspannt an. Immer häufiger kommt es zu Missverständnissen, weil Großbuchstaben nicht von Kleinbuchstaben zu unterscheiden sind, weil es einen Unterschied gibt zwischen „Rot“ und „Rat“, aber nur einen marginalen Unterschied zwischen einem handschriftlichen „o“ und einem „a“.
Immer wieder gibt es frustrierte Schüler, weil sie doch das Richtige gemeint haben, aber der Lehrer es einfach nicht hat lesen können.
Aber wer braucht heute noch die Handschrift? Alles wird heutzutage mit Computern gemacht. Wenn man tippen kann und drucken kann, braucht man dann überhaupt noch einen ordentlich zwischen Daumen und Zeigefinger positionierten Stift?
„Der allmähliche Verfall der Handschrift ist ein für die Gesellschaft insgesamt folgenreiches Problem“, behaupten die Autoren von „Wer nicht schreibt, bleibt dumm“. Woran es liegt: „weil es das Lernen in unseren Schulen massiv beeinträchtigt. (…) Es geht um ein fehlendes Fundament des Lernens.“ (S. 50)
Grenzen wir es mal ab: es geht nicht darum, dass wir als Erwachsene auf die Bank gehen und gerne einen Kredit von einem Menschen haben wollen, der die Rechnung vor unseren Augen mit einem in der Faust geführten Montblanc durchzieht, als hielte er einen Wachsmalstift und dass wir seine 1 nicht von der 7 und seine 6 nicht von einem „b“ unterscheiden können. Nein es geht nicht darum, dass eine Schrift uns Vertrauen einflößt oder dass wir hinter einer nach rechts geneigten, leicht verschnörkelten Schrift einen extrovertierten, in die Zukunft blickenden Menschen charakterisieren und hinter den kleinen, gedrungenen Buchstaben, die sich ganz eng aneinanderrücken eine introvertierte Person mit Sicherheitsbedürfnis. Es geht darum, dass unser gesamtes Netzwerk an Wissen und Bildung notwendigerweise an Traditionen gekoppelt sind. Und es geht darum, dass Traditionen nur auf zwei Arten von Generation zu Generation vermittelt werden können: Mündlich oder eben schriftlich. Und mündlich bedeutet immer die Abhängigkeit von der Instabilität der menschlichen Erinnerungsgabe. Wir leben gottlobseidank nicht in der Dystopie von Fahrenheit 451. Niemand muss ein komplettes Buch auswendig lernen, damit es erhalten bleibt. Wir schreiben alles auf. Die Freiheit des gesprochenen Wortes wird stabilisiert und gestützt durch die Dauerhaftigkeit des geschriebenen.
Luther nagelte seine Thesen gut lesbar an die Kirchentür.
Und er hatte damit einen größeren Einfluss als wenn er die Worte rausgebrüllt hätte, vierundzwanzig Stunden lang.
Wer möchte, darf gern eine alternative Geschichte der Menschheit verfassen, in welcher kaum einer anständig schreiben kann.
Ich garantiere, die Geschichte endet nach nur maximal drei Kapiteln. Denn die Folgegeneration wird nicht klüger, wenn sie sich nur auf die Verbalsprache verlässt.
Das Schreiben ist ein Werkzeug des Lernens.
Kennen Sie zum Beispiel das: Sie wollen etwas schreiben und plötzlich hängen Sie an einem Wort. Sagen wir „abrupt“. Sie wissen gerade nicht, wie man es schreibt. Aber sie haben es schon mal geschrieben. Also nehmen Sie sich ein Stück Papier und schreiben es einfach auf. Einigen Menschen hilft das. Sie beschreiben das so: „Das Wort sieht soundso geschrieben ‚falsch’ aus.“ Oder: „Das Wort fühlt sich soundso geschrieben ‚falsch’ an.“ Etwas Training und Selbstvertrauen und geübte Schreiben schalten einfach den Kopf aus und schreiben drauflos. Plötzlich sehen sie bewusst hin und erkennen, dass sie das Wort einfach geschrieben haben. Sie verlassen sich auf den Automatismus und gewinnen am Ende die Sicherheit: Ja, das Wort ‚abrupt’ wird so geschrieben und nicht etwa ‚aprubt’.
Seien wir ehrlich: die Wenigsten gehen in der Schule gelernte Rechtschreibregeln im Kopf durch.
Was dieses Beispiel beweist, ist eine besondere Eigenart des Schreibens. Wir bringen unsere Gedanken durch das fließende Schreiben zu Papier. Und dieses Schreiben ist mehr als nur eine rein motorische, sondern eben auch eine geistige Aktivität, gekoppelt mit psychischen Faktoren. Man kann sich zum Beispiel ein Mädchen vorstellen, das ohne Anstrengungen die schönsten Blumen zeichnen kann, sobald es aber das Wort „Blume“ schreiben soll, beginnt die Stifthaltung sich zu verkrampfen und ein Zittern tritt ein, der Stift drückt viel zu fest aufs Papier, die Schrift wird krakelig und nichts verrät mehr von der Sicherheit und dem Talent des Malens.
Brügelmann und Brinkmann, von denen in den vorherigen Kapiteln die Rede war, haben betont, dass Schrift „individuell“ erkundet werden muss. Dass man Schreiben und Lesen nicht linear, sondern jeder auf einem eigenen Weg entdecken kann. Das war der ‚natürliche’ Zugang zum Schreiben. Aber, so der Vorwurf, es wird nicht berücksichtigt, dass Schreiben nicht nur ein kognitiver Akt ist, sondern auch ein motorischer. Und dass wenn Bewegungsabläufe individuell erfunden werden, es zu verhängnisvollen Automatismen kommen kann.
„Was nützen die kreativsten eigenen Ideen, wenn das Medium, die Handschrift, nicht zur Verfügung steht?“, fragen die Autoren Brüning und Clauss kritisch zurück (S.91). Was bringt es Kindern, wenn man ihnen zuhört, sie respektiert und sie zugleich in eine Welt wirft, in der sie sich nicht mehr motorisch richtig bewegen können. Denn es „wird doch verkannt, dass die jeweils 26 Groß- und Kleinbuchstaben unseres Alphabets (+ß) eine schreibmotorische Systematik enthalten, die das Kind sich eben nicht selbst erschließen kann.“ (S. 90)
Genausowenig kann ein Kind sich selbst erschließen, wie man einen Stift richtig hält. Und richtig ist hier rein motorisch gemeint: so halten, dass man länger schreiben kann, ohne Haltungsstörungen zu bekommen, ohne die Tinte zu verschmieren, ohne sich selbst die Schrift zu verdecken, ohne den Rücken zu verkrampfen, ohne ständig innehalten zu müssen! Letzteres ist besonders wichtig. Wenn ich innehalten muss, muss ich mein Denken unterbrechen. Beim Schreiben laufen immer zwei Prozesse gleichzeitig ab, vergessen wir das nicht: ich denke und ich bringe mein Denken zu Papier.
Und damit schließt sich der Kreis zur eingangs gewählten Metapher: Mein Schreiben ist mein Werkzeug. Ist mein Werkzeug beschädigt, ärgere ich mich und meine Arbeit dauert entweder unnötig lange oder das Ergebnis wird nicht optimal. In beiden Fällen drohen entweder Frust oder eine Welt, in welcher jede Arbeit suboptimal erledigt wird. Und dann sind wir Menschen je gewöhnlich kreativ: erklären wir doch einfach, dass es nicht besser geht. Dass es so doch ausreicht. Schrauben wir unsere Erwartungen und unsere Ansprüche einfach nach unten.
Streichen wir doch alle Hindernisse und Probleme, die einem hohen Anspruch verdächtig nahe kommen: Kaum noch Schulen unterrichten die Schreibschrift oder gar überhaupt eine Verbundschrift – also eine Schrift, bei welcher die Buchstaben aneinander hängen – kaum noch Schulen üben ‚Schönschrift’. Rechtschreibung darf nur noch kritisiert werden, wenn es explizit in der Unterrichtsreihe davor Thema war. Rechtschreibung darf nur noch in Deutsch in die Bewertung mit einfließen. Und wenn überhaupt, darf die Rechtschreibleistung nur eine Note in der Abschlussbewertung ausmachen. Und so weiter und so fort.
Was soll’s?
Der erste Bankangestellte mag den Montblanc noch im Faustgriff halten, der nächste zeigt uns seine Rechnung als Präsentation vom Tablet aus. Das ist die Zukunft. Und die bunten Bildchen wirken ohnehin viel souveräner und charakterstärker als die souveränste Handschrift.