Sturmzeit (3)

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Und hier ist Teil (3):

 

Der Alkohol wirkte am Tag danach.

Die drei Frauen trugen Sonnenbrillen, obwohl es nicht zu hell war. Die Männer trugen Rucksäcke, obwohl kaum etwas drin war.

Sie zogen gemeinsam in den Wald hinein. Wie zur Probe trugen Steven und Gerri bereits ihre Kostüme: Steven trug einen schwarzen Lederwurf quer wie eine Toga über der Brust. Gerri dagegen ein nur aus schwarzen, genieteten Lederriemen bestehendes Oberteil. Die Hosen waren beide gleich: braun, weit ausgeschlagen und in spitze Ledersandalen mündend. Nur Drafi trug normale Kleidung. Gut gelaunt hatte er den Arm um Quinn gelegt. Er stützte sie sogar, half ihr über ein paar umgestürzte Bäume, die den Weg blockierten und er erzählte fast pausenlos davon, wie gut es ihm hier gehe.

Keiner der dreien war heute Nacht ins Bett gekommen. Wenn überhaupt, hatte Josy vermutet, war Steven in der Weinstube am Tisch eingeschlafen. Gerris tiefe, schwarze Augenringe verrieten, dass er wirklich durchgemacht hatte. Das merkte man auch daran, dass er leicht reizbar und ungeduldig auf Jeannette wirkte.

Sie hielt größtenteils Abstand und orientierte sich an Josy. Das führte automatisch dazu, dass Quinn und Drafi etwas auf ihrer Wanderstrecke zurück fielen.

„Es ist gut, dass ihr dabei seid diesmal.“, sagte Drafi ungewohnt sanftmütig.

„Es ist wirklich schön hier.“, sagte Quinn. Und dann sprach sie zum ersten Mal aus, was sie gestern mehr als einmal empfunden hatte: „Der Wald scheint zu atmen.“

Sie hatte erwartet, dass Drafi sie auslachen würde. Er war nicht gerade ein Freund von blumiger Sprache.

„Du merkst es auch?“, sagte er statt dessen. Er blieb stehen und drehte sich vom Weg ab, dem Waldhang zu. „Du kennst doch die Märchen, in denen sich Kinder im Wald verirren. Ich hab das nie wirklich verstanden. Wie man sich im Wald verirren kann und so. Oder wie man sich hier verstecken kann. Aber sieh mal. Wenn du zwischen den Bäumen durchschaust. Du kannst nicht weiter sehen als was? Vier oder fünf Baumreihen. Nicht wahr? Wenn du hier verloren gehst, vielleicht sogar nachts. Und wenn du dich vom Weg entfernst. Dann verschlingt dich der Wald mit Haut und Haaren. So als wär er ein Raubtier.“

Sie standen da und lauschten in den Wald hinein, bis Drafi auf einen Schlag laut zu lachen begann. Sie zuckte wie unter einem angedrohten Schlag zusammen.

„Komm schon Queeny! Ich verarsch dich. Das hier ist ein Wald. Mehr nicht.“

Aber es war nicht so. Sie konnte es bis ins Mark spüren.

Drafi hatte kein feines Gespür. Es war ein Wunder, wenn er im Dunklen den Hosenknopf aufbekam. Sein Leben bestand in der Regel darin, einfach nur voranzuschreiten und über alles hinwegzusehen und drüber zu stampfen, was sich ihm in den Weg stellte. Er hatte weder Menschenkenntnis noch ein Gespür für die Dinge, die in der Luft lagen. Wenn jemand gestorben war und ein ganzer Raum voller Menschen in Trauer versank, konnte er plötzlich einen Witz über einen Leichenfledderer machen. Auf einer Hochzeit hatte er schon erst die Braut, dann die Brautmutter angebaggert. Und das alles, obwohl Quinn dabei gestanden hatte. Und Queeny hatte er sie das letzte Mal auf ihrer Hochzeitsreise genannt. „Du bist meine Königin, Queeny.“, so oder so ähnlich. Es war das letzte Mal überhaupt, dass er ihr ein Kompliment gemacht hatte.

Nicht nur, dass inzwischen zehn Jahre vergangen waren, es waren auch die miesesten Jahre ihres Lebens gewesen. Es war ihr Leben lang fast so gewesen wie jetzt auf diesem Waldweg. Er hielt seinen Arm um ihre Schulter und wenn er ging, dann schob er sie neben sich her. Und wenn er stehen blieb, krallte er sich in ihre Schulter und zwang sie ebenfalls zum Stillstehen.

Das Leben mit Drafi war das Leben an Bord einer sich ewig über alles hinwegsetzenden Dampfwalze.

Es tat ihr weh, dass er sie Queeny genannt hatte. Aber merkwürdigerweise tat es ihr mehr weh, dass er so über diesen Wald gespottet hatte. Ein Knoten spannte sich in ihrem Brustkorb.

Sie rasteten in einer verschlossenen Grillhütte, für die Steven einen Schlüssel hatte. Sie machten ein Feuer und hielten ein paar Würste über die Flammen. Sie tranken jeder eine Dose Bier. Dann zogen sie wieder weiter und hörten Gerri zu, der sich anstrengte, mit Steven in einer gekünstelten mittelalterlichen Art zu sprechen.

Und dann kamen Schritte auf sie zu. Quinn hörte die Joggerin schon von Weitem. Als sie Nazda erkannte, spannte sich ihr Knoten in der Brust noch fester zusammen.

Es war, als würde sie von diesem Augenblick an einem Film zuschauen, den sie eigentlich schon mal gesehen hatte, aber sich nicht mehr wirklich daran erinnern konnte.

Sie wusste von Anfang an, dass das Aufeinandertreffen schief gehen würde.

Vielleicht weil es klar war, was in Drafi vorgehen musste, als Nazda erst Steven und Gerri beiläufig grüßte, dann aber bei Quinns Anblick breit zu strahlen begann. In ihrem Blick war ganz deutlich das Wiedererkennen zu sehen. Und zu all dem kam hinzu, dass Nazda ihr Joggen unterbrach und vor Drafi und ihr stehen blieb.

„Guten Morgen.“, strahlte das Mädchen.

Drafi fragte sofort: „Was bist du für ein Affe?“

„Mein Name ist Nazda.“, sagte sie fast automatisch und garantiert hatte Drafis unerwartet barsche Ansprache sie völlig irritiert.

„Hab ich nach deinem Namen gefragt?“, lachte er. Ein Lachen wie eine Drohung.

Quinn wurde losgelassen.

„Verzeihung, wenn ich gestört habe.“, sagte Nazda und versuchte weiter zu joggen. Aber Drafi stellte sich ihr in den Weg.

„Hey, Gerri. Du siehst doch so was. Wenn man so ein Gesicht hat, ist man dann behindert oder normal.“, blitzschnell packte er das Gesicht des Mädchens und drehte sie wie eine windige Puppe unter seinen Händen zu Gerri herum. Der hatte sich inzwischen auch zu ihnen umgedreht und als er Nazdas entsetztes Gesicht sah, spuckte er nur auf den Boden.

„Heißt Nazda, der kleine Affe.“, sagte Drafi. Er hielt das arme Mädchen nur mit einer Hand am Kinn, aber er konnte er sie bewgen, wie er wollte und sie hatte keine echte Chance, sich aus seinem Griff zu befreien.

Er zog sie jetzt an sich heran, drückte ihren Hinterkopf fest gegen seine Schulter und beugte sich über ihr Ohr: „Hast Glück, dass wir heute gut gelaunt sind. Wer weiß, was wir in so einem einsamen Wald mit solchen wie dir machen, wenn wir mies drauf sind.“

Steven lachte nervös. Gerri rieb sich die Hände.

Quinn spürte, dass es nur eine einzige Sekunde war, in der Drafi sich herausgenommen hatte, über Nazda zu entscheiden. Dass er sie als nächstes angewidert von sich stoßen würde, war Quinn vollkommen klar. Aber es spielte eine Rolle, wohin er sie stieß. Die schlimmste Variante wäre in Gerris Arme. Am besten noch einfach auf den Boden.

Drafi stieß sie aber vom Weg herunter. Er stieß sie mit halber Kraft – und das war schon heftig – über den Hang. Ihr zierlicher Körper krümmte und drehte sich. Sie stürzte auf den Waldboden und rollte wie ein lebloser Baumstamm nach unten. Man hörte nichts als das Rascheln ihres Körpers auf dem Laub. Nichts als das Knacken von Ästen. Das Keuchen ihres Atems. Als ob sie ein im Weg stehender Gegenstand gewesen wäre, ein wertloses Ding, das man weg stieß, um weiter gehen zu können.

Er wollte auch einfach weiter gehen. Wollte sich nicht weiter um das arme Mädchen kümmern. Den Arm um Quinn legen und vielleicht lachen. Vielleicht wieder einen völlig unpassenden Witz machen.

Kennt ihr die Geschichte von dem Mädchen und dem Mann im Wald? Sagt das Mädchen: he, du hast drei Wünsche frei! Für dich brauch ich nur einen, lachte der Mann.

Aber da war keine Quinn, wo er den Arm hinlegen wollte.

Sie hatte nicht mal geschrien, als die Sache passiert war. Sie war einfach nur vorgestürzt, hinter Drafis Rücken vorbei auf den Abhang zu. Mehr rutschend als rennend folgte sie dem armen Mädchen. Sie hörte, dass Drafi nach ihr rief. So als ob sie ein ungehöriger Hund wäre. Er rief sie „Queeny!“. Das machte es ihr leichter, ihn zu ignorieren.

Nazda lag mit dem Gesicht nach unten in einer Senke, die den Hang kurz unterbrach. Es war überall Blut. Hastig drehte Quinn das arme Mädchen auf den Rücken.

Ihr Gesicht sah furchtbar zugerichtet aus: die Nase war zur Seite gerückt, der Mundwinkel hing schief. Das linke Auge sah aus, als ob man einen kleinen Tannenzapfen unter das Augenlid geschoben hätte.

„Nazda!“, Quinn rang nach Atem.

Das Mädchen schlug die Augen auf. Wo Quinn bisher nur ungebrochene Freundlichkeit gesehen hatte, schlug ihr eine Welle des Hasses entgegen.

Sie kannte es, von Fremden voller Hass angestarrt zu werden. Aber dass dieser Hass diese vollkommene Unschuld der jugendlichen Freude aus diesen Augen vertrieben hatte, trieb Quinn die Tränen in die Augen.

Weinend vergrub sie ihr Gesicht in Nazdas Hals. Sie schluchzte in das arme Mädchen hinein und fühlte sich klein und hilflos wie noch nie im Leben.

„Keine Angst, Quinn“, hörte sie auf einmal Nazdas Stimme dicht an ihrem Ohr.

„Lass das Negermädchen in Frieden und schaff dich her!“, brüllte Gerri. Er brüllte es in den Wald hinein wie ein Jagdhund laut für sein Herrchen bellt, wenn er es von ihm befiehlt. Steven rief nur Quinns Name. Josy und Jeannette blieben stumm.

„Sind sie alle so? Bist du die einzige?“, fragte Nazda. Quinn verstand genau, was sie wissen wollte. „Nein. Josy und Jeanny und ich, …“, mehr brachte sie nicht hervor. Von oben waren Geräusche zu hören. Sie kamen sie holen.

„Beruhig dich, Queeny“, hörte sie die Stimme, die überhaupt nicht beruhigend klang. „Erinner dich an dein Versprechen. Es ist unser Wochenende. Nicht deins.“

Nazda schob Quinn sanft von sich.

„Dann soll es so sein.“, sagte Nazda. Ihre Hände vergruben sich knackend in der Erde. Merkwürdigerweise trat ein böses Grinsen auf ihr Gesicht.

Als Drafi sie erreichte und auf die Beine zog, war Nazda tot.

Man sah, dass ihre Brust sich nicht mehr hob und senkte. Man sah, dass das Blut eine immer größere Fläche bedeckte.

„Du hast sie umgebracht.“

Drafi starrte auf das Mädchen. Er reagierte nicht halb so gleichgültig, wie sie erwartet hätte. Er sagte zwar: „Eine weniger.“, aber er zitterte leicht.

„Wir gehen weiter, Queeny. Und weißt du wieso? Weil wir nichts mehr machen können. So ist das Leben. Die Dinge passieren. Wir gehen nur mitten durch.“

Sie wollte sagen, dass man das Mädchen doch nicht einfach so liegen lassen konnte. Aber das hatte keinen Sinn. Natürlich konnte man sie so liegen lassen. Man konnte einfach zurück auf den Weg steigen und sich den Jungs anschließen und weiter gehen. Sich umziehen und fertig machen für den ersten Tag auf dem Mittelaltermarkt.

Die Frauen durften unter sich bleiben, mussten aber vor gehen.

„Er hat sie umgebracht.“, flüsterte Josy. Jeannette sagte: „Es sah ganz einfach aus.“

Quinn sagte nichts.

Sie musste daran denken, dass Nazda gestern gesagt hatte: „Ich bin froh, dass sie sich nicht wehgetan haben.“ Und dann überkam Quinn ein Zittern, das sich genauso wenig legen sollte, wie sich der Knoten in ihrer Brust löste.

 

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