Sturmzeit (6)

Anfang verpasst?

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Und jetzt geht es endlich weiter:

Als Josy mit 16 ihren Steven heiratete, hatte sie zu ihrer Schwester wortwörtlich das gleiche gesagt, was sie auf dem Rückweg jetzt auch zu Quinn sagte: „Das war’s. Ich hab den letzten Schlag hinter mir.“ Und weil Quinn nichts antwortete, sondern einfach nur auf den schwarzen Boden vor ihren Füßen starrte, fuhr sie fort:

„Wir haben uns sogar im Schwimmbad kennengelernt. Steven und ich. Er hat mich gefragt, was das für Narben auf meinem Rücken wären. Und ich hab ihn angelogen. Ich hab ihm gesagt, dass es ein Autounfall gewesen wäre. Nicht mein eigener Vater. Steven hat ganz traurig ausgesehen. Er hat gesagt, dass er Narben nicht mag. Dann hat er viel herumgestammelt, weil er gemerkt hat, dass es falsch rüber kam. Er wollte mich ja eigentlich anbaggern. Und da kommst du mit einem Kompliment eigentlich besser zurecht als mit einer Beleidigung.“

„Was hat er dann gesagt?“

„Dass er Narben nicht mag, die meinen Körper verunstalten. Und dann hat er auch noch gesagt: Dabei machen Narben das eigentlich gar nicht. Sie machen das Schöne gar nicht kaputt. Sie legen sich nur über die Schönheit drüber. Das Wahre ist immer unter den ganzen Narben.“

„Und das hast du geglaubt?“

„Das wollte ich, Brudi.“, sagte Josy. Auf einmal hatte Quinn das Gefühl, dass ihre beste Freundin nicht mehr so klang wie sonst. Die abgestumpfte Kälte in ihrer Stimme klang mehr nach Quinn als nach Josy.

„Du hast mir vor ein paar Jahren mal was gesagt, Brudi.“

„War bestimmt Mist.“, sagte Quinn mit trockener Kehle.

„Nein. War verdammt weise. Hab ich oft drüber nachgedacht.“

„Was war es denn?“

„Dass jeder Mensch auf der Welt zwei Eltern hat, eine Mama und einen Papa. Und dann gibt es aber ein paar Menschen, die haben drei. So wie wir, Quinn: Wir haben von Kindheit an alle drei lieb gehabt, nicht wahr? Unsere Mama, die immer brav in der Ecke saß. Unser Papa, der immer wütend auf alles war. Und unsere Schmerzen, die uns nie loslassen wollten.“

„Sowas hab ich bestimmt besoffen gesagt.“

„Nein.“, meinte Josy leise. „Das hast du ganz im Ernst gesagt. Und dass normale Leute sich in Menschen verlieben, die sie an ihre Mama oder ihren Papa erinnern. Und wir verlieben uns halt in Leute, die uns an unsere Schmerzen erinnern. An unser drittes Elternteil.“

„Josy“, machte Quinn plötzlich. „Steven ist tot. Genau wie Nazda, das Mädchen.“

„Nein.“, widersprach Josy. „Dein Mädchen ist nicht tot. Sie war nämlich da.“

„Was sagst du da?“

„Sie war bei mir, Brudi. Sie hat mich auf dem Boden gefunden, wo du mich abgesetzt hast und hat mir was zum Trinken gegeben.“

Quinn starrte ihre Freundin entsetzt an. Das, was Josy da sagte, konnte nicht stimmen. Es war einfach unmöglich.

„Und dann hat sie mich etwas gefragt, Quinn.“

„Was … hat sie denn gefragt?“

„Nach dir. Warum du deine beste Freundin im Stich lässt für so einen von diesen Typen.“

Vor ihnen tauchte die Biegung auf, die ihnen bekannt vorkam. Keine hundert Meter mehr und sie waren wieder zurück in der Herberge.

„Willst du nicht wissen, was ich ihr geantwortet hab, Quinn?“

„Was denn?“

„No men left behind. Das hab ich gesagt. Sie kann es ja nicht verstanden haben, Quinn. Sie kennt ja nicht die ganze Geschichte. Aber sie hat genickt. Hat einfach nur genickt, mir auf die Beine geholfen und mich zu euch gebracht. Zu dir und zu … du weißt schon.“

„Er ist tot, Josy.“

„Ja. Und wenn nicht jetzt – morgen auf jeden Fall.“

„Du willst nicht, dass wir umdrehen? Ihn retten?“

Jetzt blieb Josy stehen und starrte Quinn verblüfft an. Josy folgte Quinns Blick. Und endlich ließ sie Quinns Handgelenk los.

„Hab ich dich hinter mir her geschleift?“, dann traf sie ein Gedanke wie ein Schlag. „Brudi, hab ich dir wehgetan? Tut mir Leid, ich … Quinn, Brudi, ich wollte dir nicht …“

„Schon gut.“, log Quinn. Sie rieb sich das Handgelenk und drehte dann vor Josys Augen die Hand, als ob das irgend etwas beweisen könnte.

„Du willst, dass er tot ist, hab ich Recht?“, fragte Quinn leise.

Josy dachte darüber nach, aber nicht lange. Es war eine Entscheidung, dieses eine Wort zu sagen. Denn es war die Entscheidung für oder gegen Steven. Auf einmal war Quinn bewusst, dass sie sich vor ein paar Jahren geirrt hatte. Man musste nicht immer den Schmerz wählen. Als Josy jetzt doch „Ja“ sagte, mit einer harten, festen Stimme, wählte sie zum ersten Mal einen anderen Weg.

Und nur um auf Nummer sicher zu gehen, sprach sie es laut aus:

„Ja, ich will, dass er tot ist. Wir haben ihn doch nicht umgebracht, oder?“

„Wir haben ihn zurückgelassen.“, antwortete Quinn.

„Wir überlassen ihn sich selbst.“, verbesserte Josy. „Er gehört nicht mehr dazu. Wenn er dazu gehören würde, dann müssten wir umdrehen. Aber das tut er nicht, Brudi. Er ist nicht mehr“, und jetzt klopfte sie sich mit der Faust auf die Brust, knapp unter der Kehle, dorthin, wo Josy glaubte, dass die Seele saß.

 

Es war erschreckend, wie wenig Steven von den Männern am nächsten Tag vermisst wurde. Wie wenig eine Männerfreundschaft doch Wert sein konnte – und wie viel eine Männerfreundschaft Steven zu Lebzeiten doch Wert gewesen war.

Als Josy endlich am Ende des Frühstücks fragte, ob jemand etwas von ihm gehört hätte, fragte Gerri nur zurück, ob Steven letzte Nacht etwa nicht bei ihr gewesen sei.

Josy sagte nur „nein“. Bei den Männern erregte sie damit kein Interesse, aber Jeanny schien aufzuhorchen. Sie warf einen bedeutungsvollen, fragenden Blick zu Quinn herüber, die plötzlich wieder ein Schütteln aufkommen spürte, so wie Tags zuvor bei Nazdas Tod und dem entsetzlichen Schweigen der Männer dazu.

Quinn beschloss, die Frage hinter Jeannys Blick zu ignorieren. Eine nicht ausgesprochene Frage war nämlich leicht zu ignorieren – wenn man bereit war, später dem Vorwurf klarzukommen, der bei Jeanny unausweichlich war.

Als sie eine Stunde später zur Wanderung zur Burg Landeck aufbrachen, warfen Drafi und Gerri tatsächlich besorgter.

Sie erreichten Steven nicht auf sein Handy, sein Geldbeutel lag noch unangetastet im Zimmer der Herberge und – was Gerri viel erschreckender fand – er hatte bei dem Herbergsvater keine Nachricht für Drafi hinterlassen.

„Sonst lässt er dich jeden Furz wissen, den er ablässt.“

Drafi sagte nichts dazu. Aber sein Gesicht war so ernst und ausdruckslos wie sonst nicht. Und er musterte Josy unterwegs, als ob er etwas ahnen würde.

Jeanny hatte keine Chance sich mit Quinn heimlich zu unterhalten. Denn Drafi ließ seine Queeny – wie er nicht aufhörte, sie zu nennen – nicht von seiner Seite.

Irgendwann auf der Wanderung fragte er: „Wo warst du letzte Nacht?“

„Was meinst du?“

„Du bist spät ins Bett gekommen. Und ich hab dich gesucht gehabt.“

„Draußen. Keine Ahnung. Hier sieht alles gleich aus.“, log sie. „Sei froh, dass ich zurück gefunden habe.“

„Du warst bei ihr, hab ich Recht? Bei dem Mädchen.“

„Sie heißt Nazda.“

Seine Stirn zog sich in Falten. „Heißt oder hieß?“

Quinn biss sich auf die Zunge.

„Ich hab gehört“, sagte Drafi auf einmal „was die anderen vermuten. Dass die Kleine wieder aufgestanden und losgegangen ist. Ist mir egal, wenn es so wär. Aber Quinn, wir beide waren da. Ok? Es ist alles ein wenig Scheiße gelaufen. Kann man so sagen, nicht wahr? Ich hab sie festgehalten und den Hang runter gestoßen. Erst dacht ich, vielleicht so etwas wie ein Schreck, ok. Nichts Wildes. Aber ich hab ihr in ihr Mulattengesicht geschaut und weißt du was? Sie war mir auf einmal so richtig egal. Ist nicht so, als ob man einen Mensch runter wirft, verstehst du?“

„Warum erzählst du mir das, Drafi?“, wollte Quinn wissen.

Er hob kurz die Schultern.

„Weil ich will, dass du siehst, dass es egal ist.“

Es war aber nicht egal, dachte Quinn. Es kann nicht egal sein. Sie erinnerte sich an den Abend, als Nazda ihr auf die Beine geholfen hatte und an die Art, wie sie gelächelt hatte. Sie war ein nettes Mädchen gewesen. Ein junges Mädchen, mit Augen, in denen geschrieben stand, dass sie sich auf die Zukunft freute.

„Und ich will nicht, dass du mitten in der Nacht losziehst und nach einer Leiche suchst, die bedeutungslos ist.“

Sie schwieg.

Nach einiger Zeit fragte er: „Hast du sie gefunden?“

„Nein.“

„Sie war weg?“

„Ich hab die Stelle nicht mehr gefunden.“, log sie. Es war so verdammt einfach geworden, zu lügen. Man musste nur daran glauben, was man sagte. Und so schwer war es nicht. Denn woran Quinn wirklich glaubte, schien nicht mehr der Wahrheit zu entsprechen.

„Besser so. Tote fangen schnell an zu stinken, weißt du. Sie ziehen Ungeziefer an. Ich weiß doch, dass du dich vor Spinnen ekelst. Das wird mit Maden nicht anders sein, oder?“

„Und wenn sie …“, begann Quinn. „… wenn sie noch am Leben ist?“

„Unfug.“

„No men left behind.“, kam es ihr über die Lippen.

„Was sagst du da?“, Drafi stockte. Sein Griff an ihrem Arm wurde fester.

„Nichts.“, diesmal eine schwache Lüge. Eine, die nicht aufgehen würde. Es war eine, die von Drafis Wille abhängig war. Diese Art von Lügen gingen nie durch.

„No men left behind.“, sagte sie daher schnell wieder. „Das hat mein Vater immer gesagt.“

„Ich weiß.“, sein Blick durchbohrte sie regelrecht. Die anderen gingen weiter und ignorierten, dass Drafi mit ihr stehen geblieben war. „Wenn es um deine Mutter ging, hab ich Recht?“

Sie nickte. Die miesen Geschichten sind meist die, die uns am meisten geprägt haben, richtig? Fast war es, als ob Quinn in der hintersten Ecke ihres Verstandes ihren alten Vater lachen hören konnte.

„Ich hab es noch nie verstanden. Was der Sinn dahinter ist. Warum er sie geschlagen hat und warum er sie auf der Raststätte ausgesetzt hat, sie erst zurückgelassen hat und mit mir auf der Rückbank weiter fuhr. Nur, um ein paar Stunden später wieder zurück zu fahren.“

„Er hat es dir erklärt, Quinn. Es ist ganz einfach.“

Ja, das hatte er auch immer behauptet: Dass es ganz einfach sei.

Sie ist eine Schlampe, Quinn. Aber sie ist deine Mutter, vergiss das nicht. Und sie ist die Frau, die ich liebe. Wenn ich sie nicht lieben würde, dann würde ich sie auch nicht schlagen, verstehst du? So funktioniert Liebe eben. Man kümmert sich um einander.

Das ist überhaupt nicht so einfach für ein Mädchen auf einer Rückbank. Das ist nicht einfach, weil es nichts erklärt. Weil es die lautlosen Tränen nicht trocknet und die blauen Flecke nicht kühlt. Es hilft nicht gegen die hagere, zitternde Frau, die auf den Beifahrersitz steigt und es hilft nicht, wenn sie das Kind ansieht und das Kind fragt, ob alles in Ordnung ist.

„No men left behind, Quinn. Das verstehst du, wenn du selbst einmal verheiratet bist. Ob du den anderen magst oder nicht. Das ist wie ein Wolfsrudel. Glaubst du, im Wolfsrudel mag sich jeder? Jede Nacht beißen sich die Wölfe gegenseitig in die Seite. Sie zerfleischen sich jede Nacht Stück für Stück. Aber sie sind ein Rudel. Und wenn du zum Rudel gehörst, dann kümmert man sich auch um die Wunden, die das Rudel bringt.“

„Das ist nicht einfach.“, behauptete Quinn mit gesenktem Kopf. „Das ist ein großes Stück verrottete Scheiße.“

„Wahrscheinlich.“, stimmte Drafi ihr zu. Und dann lachte er laut und schallend auf, bis sie ihn ansah. Ihr fiel auf, dass er selbst beim herzhaftesten Lachen die Augen nie schloss. Das war ihr vorher noch nie derart aufgefallen. Aber jetzt sah sie die Abgründe hinter diesen Augen und hinter dem zähnefletschenden Lachen. Es war, als würde sie zum ersten Mal im Leben Drafis Gesicht sehen.

„Das Leben ist ein großes Stück verrottete Scheiße, Queeny.“, lachte er. „Das einzige, worauf du hoffen kannst, ist eine Gruppe, die sich um dich kümmert, damit du in dieser Scheiße nicht auch noch unter gehst. Und das ist es, was ich für dich tue, hab ich da nicht Recht, Quinn?“

Wieder packte er beide ihre Arme und er drückte zielsicher und tief die Daumen in die blauen Flecke von dem Tag ihrer Ankunft. Seine lachenden Augen durchbohrten sie.

„Das tust du.“, sagte sie. „Du passt auf mich auf. Du passt auf uns alle auf.“

„Und deshalb gehst du nicht mehr allein raus in den Wald. Diese Suche nach diesem Mädchen bringt nichts, hast du verstanden?“

Sie nickte.

Und noch fester bohrten die Daumen.

„War Steven vielleicht bei dir? – Oder seine Josy?“

Der Schmerz jagte durch ihren Arm. Es war, als ob dünne Drähte durch die Schulter nach hinten in den Rücken gestoßen würden. Die Wirbelsäule dehnte sich wie von selbst. Es war ein Schmerz, unter dem der ganze Körper erlähmte und der Stolz, die Gedanken, die Kraft zu Lügen und sich zu verbergen einstürzte wie ein Kartenhaus.

Sein Grinsen rückte eng an sie heran. Er wiederholte noch einmal: „Warst du allein oder …?“

„Quinn?“, Jeanny war die paar Meter zurück gekommen und Drafi ließ los.

„Es sieht atemberaubend aus. Das musst du sehen. Wo bleibt ihr?“, sie sah so wunderbar unwissend aus. So bezaubernd einfältig und dumm, dass Quinn sie am liebsten in den Arm genommen hätte.

Quinn sagte: „Wir kommen“ und es überraschte sie, wie sicher ihre Stimme noch klingen konnte.

Als sie zu Jeanny aufschloss, spürte sie die Blicke, die wie Nadelstiche in ihren Rücken stießen. Sie spürte sie den Rest des Tages, selbst wenn Drafi nicht in der Nähe sein sollte.

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