Sturmzeit (7)

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Die Aussicht, von der Jeanny geschwärmt hatte, und die sie jetzt ineinandergehakt von der Aussichtsstelle genossen, war wirklich schön. Nur hatte Quinn keinen Sinn dafür. Drafi stand dicht hinter ihr. Es wäre falsch gewesen, wenn sie sich selbst eingestanden hätte, Angst vor ihm zu haben. Sie fürchtete ihn nicht im Geringsten. Sie fühlte sogar gar nichts. Höchstens Kälte.

Gerri stellte sich auf die andere Seite von Jeanny. Und obwohl er den Arm über ihre Schultern legte, ließ Jeanny ihre Freundin nicht los. Josy stand etwas abseits, in einem von dunkel ausladenden Bäumen gespendeten Schatten.

Sie sahen alle in die gleiche Richtung, über die schier endlose Weite, die flirrende Ebene hinweg, durch die sich die südliche Weinstraße wandt.

Feld an Feld reihte sich aneinander, durchbrochen von rotbraunen Dorfdächern und kleinen Waldungen. Die Weinrebenfelder leuchteten in hellen Grüntönen und waren liniert, als hätte man mit gewaltigen Kämmen Strähnen in die Landschaft gezogen.

„Warum ist es bei uns nicht so schön?“, fragte Jeanny versonnen.

Aber Gerri widersprach: „Nirgends ist es so schön wie zu Hause.“

Niemand sagte etwas dagegen. Irgendwann drängte Drafi zum Weitergehen. Der Weg zur Burg Landeck war ausgeschildert. Gerri erzählte ihnen, dass es zu ihrer Tradition dazu gehörte. Bevor sie am Abend auf das Richard-Löwenherz-Fest gingen, wurde erst die Burg Landeck und direkt im Anschluss das kleine Mittelalterfest in Brechen besucht. Die Landeck war eine kleine, gemütliche Ruine. Sie bestand aus drei aufeinander aufgeschichteten Ringen. Im obersten, innersten befand sich der eigentliche Burgplatz, der als Burgschenke genutzt wurde. Es standen überall Bänke und Tische. Bei dem guten Wetter war die Gaststätte natürlich gut besucht. Sie fanden recht schnell Platz an einem übergroßen Tisch, wo bereits eine Gruppe Motorradfahrer und ein Rentnerpaar Platz gefunden hatten. Gerri erzählte, dass der Turm zu einem Museum umgebaut war, um seiner Jeanny zu imponieren, versuchte er ihr die Aussicht vom Turm schmackhaft zu machen. Aber sie biss nicht an. Schließlich sagte Gerri, er wünsche, Steven wär hier und sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen.

„Der sitzt zu Hause auf seinem Bett und schläft einen Rausch aus. Ich sag’s dir. Und jetzt will ich von Steven nichts mehr hören. Ist nicht das erste Mal, dass er einen Mittelaltertag verpasst.“

Vermutlich weil keiner mehr bis zum gelieferten Bier etwas sagte, knüptfte Gerri Kontakt mit den Bikern. Drafi rückte rüber zu dem Gespräch, als das Thema auf das Richard-Löwenherz-Fest fiel und die Biker verrieten, dass sie später auch dorthin wollten.

Endlich waren die Frauen wieder für sich.

Jeanny fragte sofort: „Was ist wirklich mit Steven los?“

„Was ist mit dir los?“, fragte Josy grob zurück. „Du lässt dich von deinem Gerri in den letzten Tagen stärker rumschubsen als sonst. Du bringst ihm das Bier an den Tisch, schmierst ihm die Brote für den Ausflug, packst ihm den Rucksack, hast du ihm heut auch die Schuhe zu gebunden? Die Hose angezogen? Mein Gott, den Arsch abgewischt?“

„Josy!“, unterbrach Quinn sie schnell.

„Verdammt, ist doch wahr.“, schnappte sie. Fiel dann aber zum Glück in ihr Schweigen zurück, das sie den ganzen Tag bereits zur Schau gestellt hatte.

„Du siehst nicht gut aus.“, sagte Quinn statt dessen zu Jeanny. „Als ob du letzte Nacht auch nicht geschlafen hättest.“

Verstohlen blickte Jeanny zu den Männern herüber, dann, als sie sich sicher war, dass ihnen keine Beachtung mehr geschenkt wurde, krempelte sie den Arm ein Stück auf.

„Er hat viel gesoffen letzte Nacht.“, sagte sie, als würde das irgend etwas erklären. „Normalerweise reagiert er nicht aggressiv auf Alkohol. Das wisst ihr. Normalerweise besänftigt es ihn sogar. Aber die Sache mit dem Mädchen …“

„Nazda.“, sagte Josy. Und dann tat sie etwas, was sie sonst noch nie getan hatte: Sie reichte mit der Hand verstohlen unter dem Tisch zu Jeannys Arm herüber, zog ihn unter den Tisch und musterte die neuen Wunden. Es waren, wie Quinn auf den ersten Blick erkannt hatte, Brandwunden von ausgedrückten Zigaretten. Man hatte nur drei auf dem Handgelenk gesehen, aber Quinn hätte ihren rechten Arm darauf gewettet, dass da noch deutlich mehr Brandspuren zu sehen waren.

„Er hat die Geschichte noch mal erzählt. Er hat erzählt, dass Drafi in der Kneipe unten vor ihm angegeben und geprahlt hatte. Wie leicht das Mädchen doch gewesen wäre. Und wie leicht sie geflogen wäre. Wie leicht das Genick gebrochen wäre. So ein Zeug. Und dann hatte Drafi ihm wohl gesagt, dass es auch ganz leicht war, es einfach zu tun. Versteht ihr. Dass das Tun fast das Leichteste sei. Und er hat Gerri angestachelt. Weil er ihm immer wieder gesagt hatte, dass einmal etwas Tun wirklich das Leichteste wäre. Das Anfangen. Das Tun.“

„Ich versteh’s nicht.“, gab Quinn zu.

„Als das Mäd … Nazda … als Nazda auf uns zugejoggt kam, da hat Gerri sich total versteift, wisst ihr. Er hat an meinem Arm gehangen. Ich hab gespürt, wie sein ganzer Körper sich angespannt hat und wie er sie angesehen hat. Wie er sie gehasst hat, als sie da so mir nichts dir nichts auf uns zugejoggt kam.“

„Er ist ein Rassist.“, meinte Josy einfach. „Er erträgt es nicht Mal, einen zu sehen.“

Jeanny widersprach nicht. Statt dessen sagte sie: „Aber er tut nichts. Er hat noch nie etwas getan. Hat noch nie jemanden … ich meine … außer mich … er hat nie …“

„Sprich es ruhig aus, Brudi: er hat noch nie an jemand anderen Hand angelegt außer an dich.“

„Als Drafi damit geprahlt hat, wie leicht es ihm gefallen ist, da hat Gerri ihm wohl gesagt, dass er auch darüber nachgedacht hatte, dem Mädchen einfach das Bein im Vorbeilaufen zu stellen. Und da hat Drafi ihn ausgelacht, versteht ihr? Er hat ihm gesagt, dass Hass nicht das Gleiche ist wie etwas Tun. Dass einfach nur fühlen und träumen und sich vorstellen und sich überlegen nicht der richtige Hass ist. Dass das jedes picklige Kind kann: jemanden anstarren und sich vorstellen, dem anderen das Bein zu stellen. Aber es wirklich tun, das können Teenager und Kinder nicht. Das können nur …“

„… echte Männer.“, ergänzte Quinn trocken. „Scheiße.“

„Gerri hat beim Reinkommen fast die Tür aus dem Rahmen gerissen.“

„Du hättest mit uns kommen sollen, Brudi. Wenn du bei uns gewesen wärst, …“

Sie schüttelte den Kopf und lächelte. „Dann wär er jetzt nicht so gut gelaunt. Dann wär er nicht so ruhig, Josy.“

Wie auf ein Kommando begann Gerri laut zu lachen. Er drehte sich jetzt sogar wieder zu seiner Josy um und nahm sie in den Arm ohne zu merken, dass sie den Arm hastig wieder runterkrempelte.

„Die Jungs campen.“, sagte Gerri. „Auf einem pissigen Campingplatz unten zwischen den Weinreben.“

Drafi stieß ihn an: „Lach nicht. Campen ist nichts für jeden.“

Ein Biker mit Vollbart und Harley Davidson Tattoo sagte: „Das ist was für echte Männer.“

Völlig unerwartet erstarrte Gerri mitten in der Bewegung. „Was hast du da gesagt?“, fragte er. Die Farbe wich aus seinem Gesicht.

„Du bist Mitten in der Natur. Nur auf dich gestellt. Keine Technik. Kein Strom. Das macht einen echten Mann aus dir.“

„Das zeigt, ob du es drauf hast.“, ergänzte ein zweiter.

„Willst du damit sagen, dass ich es nicht drauf habe?“

„Gerri, beruhig dich!“, forderte Drafi. „Was ist denn jetzt los? Wir sind doch alle friedlich.“

Aber Gerri war nicht friedlich. Der erste Biker lächelte matt. Er sah nicht so aus, als ob er Angst vor einem Kampf zu haben hätte; vor allem: nicht gegen Gerri.

„Hey, hör zu: für mich war Campen auch erst mal zu Heavy.“, er grinste jetzt. „Vor allem so ohne alles. Ohne Strom. Nur du und die Natur. Da muss man sich drauf einlassen.“

Gerri stand einfach auf und ging.

„Fuck.“, sagte Drafi. „Ich hab keinen Plan, was den heute geritten hat.“, dann wandte er sich den Frauen zu: „Seht mal nach, was mit dem los ist. Holt ihn wieder runter und ihn dann wieder zurück. Ich will mir wirklich nicht den Tag vermiesen lassen.“

Aber das war das unangenehmste, was man Jeanny hatte auftragen können. Sie stand auf, weil sie immer aufstand. Und Quinn und Josy folgten, weil Jeanny ihre Freundin war. Auf keinen Fall gingen sie Gerri hinterher, weil sie für ihn da sein wollten.

„Er ist raus gegangen.“, sagte Josy. Sie gingen den steilen Weg wieder nach unten in Richtung Ausgang. Plötzlich blieb Quinn stehen.

„Was ist los? Ist er dort drüben?“, fragte Jeanny hoffnungsvoll. Aber da war niemand. Da stand nur ein merkwürdiges, unpassendes Schild:

„Rutschgefahr?“, fragte Josy, die erst einmal nur das Piktogramm gelesen hatte.

Quinn trat näher heran und spürte wie eine eiskalte Welle über ihren Rücken kroch.

„Nicht vom Beckenrand springen“, stand da. Das Schild kannte sie. Sie kannte die verbogenen Kanten und den Rost. Von den Nägeln tropfte eine klebrige, grüne Substanz herab.

Diesmal strich Quinn mit dem Finger über das Zeug und zerrieb es zwischen den Fingern. Es fühlte sich wirklich wie Harz an, aber es roch strenger. Irgendwie nach Moos. Oder nach einem alten Wald. Irgendwie erinnerte der Geruch sie an Nazda. Das Bild blitzte vor ihrem inneren Auge auf, wie sie auf dem trockenen Laub gelegen hatte. Nur sah sie die Maden sich durch Nazdas Haare winden. Obwohl das Bild nur den Bruchteil einer Sekunde vor ihrem geistigen Auge entstanden war, hatte es einen sehr lebhaften Eindruck auf sie. Quinn zuckte zurück.

„Das Schild!“

Josy und Jeanny sahen sie fragend an. In Quinns Magen drehte es sich. Sie sah jetzt nur zu Josy herüber: „Das stand auch gestern Nacht da. Du weißt schon …“

„Gestern Nacht?“, wiederholte Josy.

„Ich versteh nicht, was …“

Quinn unterbrach Jeanny: „Ich versteh es auch noch nicht. Aber ich hab das Gefühl …“

„Ein ganz mieses Gefühl.“, stimmte Josy jetzt zu.

Sie rannten jetzt, stürzten geradezu aus der Burg. Hinter dem Burggraben kam der Parkplatz, von dem mehrere Wege in den Wald einbogen.

„Er läuft in den Wald!“, sagte Jeanny und rief dann nach Gerri.

Er drehte sich tatsächlich um. Aber in seinem Gesicht war abzulesen, dass er nicht zu ihnen kommen würde. Er würde sich von keiner Frau etwas sagen lassen. Und vor allem jetzt nicht. Er spuckte sogar in ihre Richtung, obwohl er nicht ernsthaft glauben konnte, sie damit zu treffen.

„Was ist denn nur los?“, fragte Jeanny.

„Das ist verdammt schwer zu erklären.“, antwortete Quinn. Und Josy meinte: „Es ist auch verdammt schwer zu verstehen.“

„Hat es etwas mit Steven zu tun?“

Quinn wollte Gerri hinterher, als Josy sie zurück hielt.

„Was ist los?“, fragte Quinn.

„Das frage ich mich seit gestern Abend auch, Brudi. No men left behind? Ist das dein Ernst?“

Ehe Quinn antworten konnte, riss Josy an Jeannys Arm und zog den Ärmel wieder nach oben. Sie hielt Quinn die frischen Brandwunden der letzten Nacht unter ihre Nase. „No men left behind?“, wiederholte Josy. „Wirklich? Ganz wirklich?“

Quinn hatte keine Ahnung, wie sie darauf antworten sollte. Aber das brauchte sie auch nicht. Denn Jeanny stieß einen spitzen Schrei aus. Als sie ihrem Blick folgten, sahen sie Nazda über den Weg in den Wald gehen, den Gerri gerade gegangen war.

„Das ist die Tote!“, japste sie. „Sie lebt noch.“ Es war erschreckend die vielen Gefühle in Jeannys Gesicht abzulesen. Dem ersten Schreck mochte eine Erleichterung gefolgt sein. Jetzt wurde sie schlagartig wieder Ernst:

„Sie geht hinter Gerri her. Sie … Quinn! Was geht hier vor? Was will sie von ihm?“

„Das kann nicht dein Ernst sein, Josy, oder?“, ignorierte Quinn die vielen Fragen.

„Nenn mir nur einen verdammten Grund!“

Jetzt sah Quinn, dass Josy Tränen in den Augen hatte. Und sie hörte noch einmal Josys Stimme von letzter Nacht: „Ich hab den letzten Schlag hinter mir“, hatte sie gesagt.

Das war es doch, oder? Das war doch das eigentlich. Dass ihr ganzes Unglück nichts anderes war, als diese drei Männer. Und dass Nazda oder dieses was auch immer genau diese Männer vom Beckenrand stieß.

Nicht vom Beckenrand springen – Vorsicht Rutschgefahr!

Es gab keine vernünftige Antwort auf Josys Einwand.

Sie hörte wie ihr eigener Atem vor Panik zu Rasseln begann. Und dieses Rasseln klang auch nicht viel anders als das selbstgefällige Lachen ihres Vaters. „No men left behind. Wenn du verheiratet bist, Queeny!“

„Es ist besser so.“, sagte Josy zu Jeanny. „Wir gehen zurück und sagen, dass wir Gerri nicht gefunden …“

Aber weiter kam sie nicht.

Jeanny stürzte so heftig los, dass Josy zur Seite stürzte. Nicht mal Quinn konnte rechtzeitig reagieren. Sie musste mit ansehen, wie ihre Freundin in den Wald stürzte und hinter Gerri und dem, was für einen Sekundenbruchteil wie Nazda ausgesehen hatte, folgte.

„Jetzt müssen wir!“, schrie Quinn Josy an und rannte auch hinterher.

Sie konnte noch hören, wie Josy laut fluchte. Aber sie war dicht hinter ihr. Immerhin. In dieser Sache mussten die drei einfach zusammenhalten.

Das war kein No men left behind mehr. Es war ein deutlich stärkeres Gefühl.

Der Wald wurde immer dichter. Die Äste schlugen Quinn beim Laufen wie dünne Peitschen entgegen.

„Jeanny!“, riefen sie und Josy. Aber die Freundin antwortete mit: „Gerri!“ und „Liebling!“ und dabei wurde die Stimme von Mal zu Mal verzweifelter.

„Quinn, warte.“, sagte Josy auf einmal.

„Wir können nicht.“, trotzdem blieb Quinn stehen. „Ich will nicht, dass ihr was passiert, Josy.“

„Sieh dir das an, Brudi!“, sie stand an einem Baum, an den sie die Handfläche aufgelegt hatte. „Das ist der gleiche Baum wie im Hof unserer Herberge, hab ich Recht?“

Quinn nickte. Es dauerte einen Augenblick, bis sie es auch sehen konnte.

Was sagt ihr dazu?