Kinderfänger (3)

 

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„Steig jetzt aus, Lev.“, sagte Onkel Vic so gutmütig er konnte. Lev konnte ihm noch nicht einmal böse sein. Er meinte es ja gut. Mehr als nur der Dorfpolizist war Vic ja auch wirklich der Bruder seiner Mutter. Und als solcher fühlte er sich ganz besonders für Lev verantwortlich und um sein Seelenheil besorgt.

Hätte er damals auf Tom und Lev gehört, läge Clementine vielleicht heute noch in ihrer Wiege.

Es muss verdammt schwer sein, auf ein Kind zu hören, das vielleicht eine bessere Idee hat als man selbst. Tom hatte einmal gefragt: Was ist das schwerste, was es gibt?

„Keine Ahnung, ein Berg?“

„Schwerer.“

„Der Mond?“

„Schwerer. Denk anders.“

„Deine Mutter?“

Tom schlug ihm die Faust auf die Schulter.

„Zugeben, dass man Mist gebaut hat, ist die Antwort. Hör auf, deinem Onkel Vorwürfe zu machen. Bringt ja doch nichts.“

„Wie kann man nur so verdammt stur sein? Ich versteh es nicht, Tom. Wir waren vor zwei Wochen bei ihm. Er tut nichts.“

„Das ist nicht wahr.“, warf Tom ein. „Ich bin mir sicher, er sitzt zu Hause in seinem Stall und lacht über unsere Ideen wie über einen niedlichen Kinderwitz. Wir werden nicht Ernst genommen, Lev. Und du weißt, was das bedeutet?“

„Wir müssen die Sache selbst in die Hand nehmen.“

„Wir müssen die Sache selbst in die Hand nehmen.“, wiederholte Tom und die beiden Freunde schlugen ein.

Jetzt sah man, was man davon hatte. Nicht wahr, Onkel Vic konnte sich hinstellen und voller Stolz behaupten, dass er von Anfang an Recht gehabt hatte: seine Nase in Angelegenheiten stecken, die einen nichts angingen, führte nur zu Ärger. Aber das war ein bitterer Genuss des Rechthabens, nicht wahr? Denn es ging nicht einfach nur um Ärger, den man mit zwei Wochen Stubenarrest wieder ausgleichen konnte. Es ging darum, dass wenn man als Kind den Kinderfänger suchte, selbst zum Opfer werden konnte.

„Du kannst ruhig aussteigen.“, sagte die Frau. „Ich bin mir sicher, dass der gute Polizist von jetzt an …“

„Nein.“, unterbrach Lev barsch und er war selbst überrascht, wie bestimmt seine Stimme klingen konnte. „Das ist vollkommen unlogisch, Onkel Vic. Du stehst hier aus gutem Grund, oder? Und was passiert, wenn du deinen Posten verlässt? Fotografier dir mit dem Handy einfach die Personaldaten der Frau ab, fotografier meinetwegen ihr Gesicht und ihr Nummernschild. Mir passiert nichts. Nicht jetzt. Wenn sie der Kinderfänger ist, wird sie dieses Risiko nicht eingehen, mich zu verschleppen. Weißt du auch wieso? Weil wenn der Kinderfänger so dumm wäre, so was zu tun, dann hättest du ihn schon längst gefasst.“

„Lev, …“, begann Onkel Vic, aber bevor er etwas sagen konnte, redete die Fremde:

„Hören Sie, mir ist es egal. Es gibt drei Möglichkeiten, entweder sie helfen mir, der Junge hier führt mich oder ich finde den Weg selbst irgendwie hier raus. Mir egal. Ich habe mit dem Verschwinden der Kinder nichts zu tun. Ich verstehe das Misstrauen, aber ich hoffe, dass es eine Chance gibt, als Fremder, hier überhaupt etwas im Dorf machen zu können, ohne unter dem selbstverständlichen Generalverdacht zu leiden.“

Er überlegte kurz, dann fragte er, ob er sie fotografieren dürfe. Sie zuckte mit den Schultern.

Als sie später wieder weiterfuhren, fragte sie: „Was bewacht er denn, dein Onkel?“

Lev zeigte auf einen etwas zurückgesetzt liegenden, gelben Bau. „Grundschule.“, sagte er. „Alle Wege zur Grundschule sind bewacht. Es gibt keinen Weg zu dem Gebäude, der nicht an einem Polizisten vorbeiführt.“

Plötzlich wurde sie direkt: „Du jagst also den Kinderfänger.“, sagte sie. „Ein Junge, der glaubt, er könnte die Sache besser machen als die Polizei. Ein kleiner Detektiv.“

Zu seiner eigenen Überraschung ärgerte es ihn gar nicht mehr, so genannt zu werden. Das Wort stachelte nur seinen Trotz an. Sollten die Erwachsenen nur versuchen, ihn klein zu reden. Bis jetzt hatte er mehr erreicht als sie alle zusammen mit ihren Straßensperren, mit ihren Verkehrskontrollen und vor allem mit ihren Plakaten, Zeitungsaufrufen und Kerzenwanderungen über die Hauptstraße, um zu demonstrieren, dass man noch da war.“

„Ich jage ihn.“, sagte Lev. „Ich stehe auf einsamen Kinderspielplätzen und …“

„Köderst.“, ergänzte sie und dann machte sie ein Geräusch beim Atmen, das eine Mischung aus Anerkennung und Überraschung ausdrückte. Sie war ehrlich beeindruckt von ihm. Aber zugleich rückte sie auch ein Stück von ihm weg.

Was verbarg sie?

Es gab Fremde, die wie Fremde aussahen, es gab solche, die sich einfach einfügten, so als wären es keine Fremden. Und einer von Tausenden war so wie sie: wie aus der Zeit und der Gesellschaft gefallen.

Sie sah wirklich nicht aus wie jemand, der von irgendwoher kam und ein ganz konkretes Irgendwo als Ziel hatte. Eher wie eine, die immer unterwegs war, die man normalerweise nicht sieht, weil sie nicht gesehen werden will. Allenthalben trifft man sie auf den Straßen, auf denen sonst keiner fährt oder in den Parks, in denen sich sonst keiner aufhält.

„Ich weiß es.“, flüsterte Lev.

„Was weißt du?“

„Der Kinderfänger.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass du eine Ahnung hast.“

„Dann mal los. Welche Ahnung haben Sie denn?“

Er lotste sie zurück auf die Hauptstraße und als sie im allgemeinen Verkehr angekommen waren und die ersten Schilder verrieten, dass es bald zur Bundesstraße kommen musste, begann sie wieder zu reden:

„Du bist ein kluger Junge. Und du wirst eines Tages ein kluger Erwachsener sein. Kluge Menschen haben so die Angewohnheit, die Welt nur durch ihre Klugheit hindurch wahrzunehmen. Wenn kluge Kinder etwas aus dem Keller holen sollen und die Dunkelheit ihnen Angst macht, dann sagen die klugen Kinder zu sich selbst: ‚Ist nur Dunkelheit. Wenn ich das Licht einschalte, ist die Dunkelheit fort und dann sehe ich, dass ich keine Angst zu haben brauche.’ Kluge Kinder wissen immer, wo der Lichtschalter ist. Und wenn sie draufdrücken, schalten sie das Licht ein und die Angst aus.“

„Klar. Es gibt ja auch keinen Grund, Angst vor dem Keller zu haben.“

„Ach ja? Und woher kommt dann die Angst?“, fragte sie zurück. „Wo kommt das Gefühl her? Jetzt sag nicht, es ist etwas Natürliches, Angst vor der Dunkelheit zu haben. Vor dem Unbekannten. Wie ist es denn mit dem ungemütlichen Gefühl, das man manchmal auch auf bei Tageslicht hat? Man geht über die Straße und spürt plötzlich, dass etwas nicht ok ist. Man sieht einen Fremden in der Straßenbahn und es überläuft einen kalt. Man hört ein merkwürdiges Geräusch im Wald, … Nein, kluge Menschen denken immer, dass es für jede Angst einen Lichtschalter gibt, der ihnen zeigt, dass es gar keinen Grund gibt, Angst zu haben. Und deshalb sind es oft die klügsten Menschen, die sich ganz gewaltig irren.“, sie setzte den Blinker und hielt am Straßenrand an. „Vielleicht gibt es nicht für jede Dunkelheit, die uns Angst macht einen Lichtschalter.

Ich glaube übrigens, dass deine Theorie mit der Gnuherde gar nicht so dumm ist. Aber damit hast du dein Licht nur auf die Opfer gerichtet, nicht wahr? Was weißt du über den Kinderfänger selbst?“

„Dass er wie ein Raubtier handelt.“, murmelte Lev.

Sie beugte sich über ihn und öffnete ihm die Tür. Automatisch stieg Lev aus. Aber er hielt die Tür noch geöffnet.

„Sie glauben also an das Ding in der Dunkelheit?“

„Ich glaube daran, dass es manchmal vernünftig ist, Angst zu haben.“

„Tom war mein bester Freund.“, sagte Lev.

„Das tut mir Leid.“

„Ich glaube nicht, dass er noch lebt.“

Sie reagierte nicht darauf. Und deshalb wurde Lev deutlicher, als er ursprünglich geplant hatte: „Ich werde aber zu Ende bringen, was ich mit ihm begonnen habe. Ich werde den Kinderfänger finden. So oder so. Und ganz ehrlich: Ich trau ihnen nicht. Ganz und gar nicht.“

Sie nickte. „Ich weiß. Aber ich fahr jetzt auf die Bundesstraße und dann bin ich weg. Ich habe nichts mit diesem Dorf hier zu tun, oder mit deinem Freund oder den anderen Kindern. Mach es gut. Und bring dich nicht in Gefahr.“

Er sah ihr noch eine Weile nach, dann griff er sein Handy und telefonierte mit Toms Bruder. Fünf Stunden später rief der wieder zurück und sagte:

„Ich glaub, du hast Recht. Du hast tatsächlich Recht, Alter.“

„Jetzt schieß schon los.“, forderte Lev ihn auf. Er sah auf die Uhr, es war kurz vor Mitternacht.

„Der Sportwagen, den du mir beschrieben hast. Ich hab ihn vom Balkon aus über die Bundesstraße heute Mittag wegfahren gesehen. Genau wie du es gesagt hast.“

„Und?“

„Und jetzt seh ich ihn wieder.“

„Bist du sicher?“

Am anderen Ende der Leitung schnaubte es. „Ich hab Toms Nachtsichtteleskop hier stehen. Ihr seid echt Spinner, wisst ihr das? Aber das Ding ist verdammt gut. Ja, ich bin mir sicher. Deine Fremde im Sportwagen“, er holte tief Luft. „Sie ist gerade wieder zurück ins Dorf gefahren. Hast du eine Ahnung, wo sie hin will?“

„Nein.“, gestand Lev. „Aber ich weiß, was sie vor hat.“

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2 thoughts on “Kinderfänger (3)

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