Kinderfänger (1)

Nach der Instagram-Wahl ist die Entscheidung wohl auf „Horrorshortstory“ gefallen.
Dann wollen wir mal langsam Anlauf holen und das Setting vorbereiten.

 

Bei jeder Gelegenheit erzählten Levs Eltern, er würde nicht rauchen. Das war so einer dieser Stolz Momente, in denen sie sich so unerträglich sicher waren, dass ihr Kind wenigstens eine Sache richtig machte im Leben.

Sie redeten immer von der großen Geschichte. Gemeint war, dass Lev damals mitbekommen hatte, wie sein Großvater bei einem Hustenanfall einen tödlichen Herzinfarkt bekommen hatte.

„Wer einmal dabei zugesehen hat, wie grausam man am Rauchen stirbt, der ist geheilt.“, erklärte Levs Mutter.

Und sein Vater ergänzte selbstgefällig: „Man sollte alle Raucher mal in einen Raum mit einem stecken, der gerade am Rauchen verreckt. Das ist kein schöner Tod. Das ist traumatisch. Vielleicht würden alle sofort aufhören mit dem Scheiß.“

Genau diese selbstgefällige Art seiner Eltern war es aber, warum Lev eben doch rauchte. Manchmal sagte er sich: Wenn sie einfach von Anfang die Klappe gehalten hätten, wenn sie einfach nichts über ihn gesagt hätten, sich einfach um ihr eigenes verdammtes Trauma gekümmert hätten, dann hätte er auch garantiert nie zur ersten Zigarette gegriffen. Und logischerweise dann auch nie zur zweiten, dritten, vierhundertsten. Man weiß ja, wie so was läuft.

Nein, Lev war ja nicht der einzige im Raum gewesen, als sein Großvater röchelnd zusammengebrochen war. Er war nicht mal der erste gewesen, der dem sterbenden alten Mann zur hoffnungslosen Hilfe geeilt war. Lev hatte sich nicht mal bewegen können. Er hatte sich fest an die Wand gedrückt und die ganze Welt wie in Zeitlupe erlebt: Sein Vater hatte dem alten Mann das Hemd aufgerissen und immerzu „Herzinfarkt!“ gebrüllt. Seine Mutter hatte nichts gerufen, sondern einfach mit völlig regungsloser Mine und wie von einer kaltblütigen Routine ergriffen mit einer Mund zu Mund Beatmung begonnen. Chrissy, Levs Schwester, weinte durch ihr Handy in Richtung Notrufzentrale. Sie winselte immer wieder die Adresse. Und es war nie deutlich genug und später sagte sie immer, dass wenn die verdammt nochmal richtig hingehört hätten, die Profis rechtzeitig da gewesen wären.

Für Chrissy waren es gar nicht mal die Zigaretten, die ihren Großvater getötet hatten. Für sie waren es die „Profis“, die viel zu spät ankamen.

Ihre Eltern jedenfalls sprachen überhaupt nicht über den Tod. Sie redeten nur übers Leben. Und darüber, dass der Tod einem wenn überhaupt nur beibringen konnte, wie man richtig zu leben hatte. Nein, besser gesagt: dass Lev gelernt hatte, wie man jetzt richtig zu leben hatte.

Hätten sie einfach nur den Mund gehalten, dann wäre nie etwas Schlimmes passiert. Denn wenn Lev nicht zu rauchen begonnen hätte, wäre er nicht von der Fremden angesprochen worden, nicht wahr?

Er wartete auf dem alten Kettlerspielplatz, oben in dem offenen Turm vom Klettergerüst. Natürlich mit der Zigarette im Mund. Sie musste von der Autobahn falsch abgebogen sein. Es war nämlich so, dass sich niemand in diesen hinteren Teil des Ortes verirrte. Es gab nur vier Straßen, ein paar wenige Häuser und dann natürlich von der Sorte, die mit einem großen Grundstück an den Wald grenzten. In solchen Gegenden wohnten immer nur die Leute, die nichts mit anderen Menschen zu tun haben wollten. Deswegen säumten ihre Grundstücke immer meterhohe Zäune. Und sie fuhren Autos, die wie Panzer aussahen.

Wenn es einen Spielplatz gab, wo man garantiert ungestört und ungesehen war, auch wenn man in der tiefsten Provinz lebte, dann waren es Spielplätze vor solchen Häusern.

Das Auto war ihm gleich aufgefallen. Es war ein tiefergelegtes, rotes Sportauto. Es sah zu teuer aus für diese Gegend und zu schnittig. Die Fahrerin hielt mit dem Auto einfach auf der Straße an. Dann stieg sie aus und kam zum Spielplatz herüber, blieb aber an dem alten Staketenzaun stehen und pfiff zu Lev hoch.

„Hey, Kleiner.“, rief sie. „Hat man dir schon mal gesagt, dass Rauchen keine so gute Idee ist?“

Keine so gute Idee, das war garantiert die Untertreibung des Jahrtausends, dachte Lev. Er grinste dämlich zu ihr herunter.

„Haben Sie sich verfahren?“, gab er zurück.

„Hast du vor, die ganze Zeit mit mir zu brüllen, oder kommst du zu mir runter, dass ich dich was fragen kann?“

Lev musterte sie. Es fiel ihm schwer, ihr Alter abzuschätzen. Auf den ersten Blick hätte er gedacht, dass sie nicht viel älter als er sein könnte. Aber dann hätte sie weder einen Führerschein haben können noch ein so teures Auto.

Für eine erwachsene Frau sah sie außerdem viel zu gut aus. Ein so gutes Aussehen war ihm bei einer Erwachsenen noch nicht untergekommen. Sie hatte schwarz gefärbte Haare und leuchtende, blauen Augen. Die Kombination hatte etwas, das ihm die Knie weich werden ließ.

Und natürlich dachte er während er vom Klettergerüst zu ihr runterkletterte, darüber nach, wie in Filmen Begegnungen dieser Art auszugehen pflegten. Ihm fielen spontan jedenfalls nur zwei Genre ein: in einem Horrorfilm würde er sich ihr nähern und dann würde sie sagen: komm noch etwas näher, Kleiner, kurz bevor ihr Vampirzähne in seinen Hals schießen würden.

Bei dem Gedanken an das andere Genre, wurden seine Knie jedenfalls noch ein wenig weicher.

„Ist eine merkwürdige Gegend in die ich mich hier verirrt habe.“, sagte sie, als er wieder in ihrem Sichtfeld auftauchte. Dann runzelte sie die Stirn: „Seh’ ich so gefährlich aus, oder warum bleibst du so weit auf Abstand?“

Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.

„Ist keine Zeit um einer Fremden zu vertrauen.“, sagte er nur und beobachtete gespannt, wie ihr Gesicht darauf reagieren würde.

„Was soll das heißen?“

„Dass es gerade keine schöne Zeit ist.“

Sie dachte nach. Dann winkte sie ihn zu sich her. „Jetzt komm schon her, ich brauch immerhin deine Hilfe.“

„Und wobei?“, wollte Lev wissen. „Ich hab nämlich nicht vor, einfach so einer Wildfremden zu vertrauen.“

„Ist wahrscheinlich klug.“, murmelte sie. Aber es klang mehr wie ein Selbstgespräch, auch als sie „Wenn du das so sagst.“, hinzufügte. Sie ging zum Auto zurück, setzte sich und zog etwas vom Beifahrersitz hervor, was sich als Straßenkarte herausstellte. Eine ziemliche alte Karte sogar, viel zu oft auf- und zugefaltet, mit Löchern und hässlichen Flecken. Das Ding sah fast schon antik aus.

„Haben wohl kein Geld mehr für ein Navi gehabt?“

„Prima.“, sagte sie. „Von allen Menschen, die ich hätte treffen können, musste ich den Dorfkomiker finden. Kannst du mir jetzt zeigen, wo ich mich verfahren habe, dass ich wieder zurück auf meine Route komme?“

„Wo wollten sie denn hin?“

Damit schien es Lev endgültig übertrieben zu haben. Denn sie fluchte vor verlorener Geduld und warf die Karte achtlos zurück auf den Beifahrersitz.

„Vergiss es. Viel Spaß beim Sterben.“, rief sie und schlug die Tür hinter sich wieder zu.

„Schon gut.“, rief Lev und kam nun doch endlich näher.

Sie hatte den Motor schon angelassen, ein schönes, volltönendes Fauchen, als ob zehn ausgewachsene Wildkatzen unter der Haube steckten.

Sie sagte, dass sie keine Lust auf Spielchen habe.

„Ich will hier einfach nur wieder weg, verstehst du?“

Das jedenfalls konnte Lev richtig gut verstehen. Seit er vor ein paar Jahren damit begonnen hatte, klar zu denken, wollte er von hier weg. Das Leben in einem Dorf mochte für viele Erwachsene einfach nur toll sein, für Kinder war es bestimmt paradiesisch. Aber für einen Teenager war das Dorfleben die pure Hölle. Vielleicht war es dieser eine Satz, mit dem sie genau das ausgesprochen hatte, was er schon seit Ewigkeiten fühlte, warum er jetzt zu ihr kam, die Fahrertür öffnete und die Hand nach der Karte ausstreckte.

Nach ein paar Minuten tippte er mit dem Finger auf die richtige Stelle. „Wir sind hier.“, sagte er. Sie hatte ein paar merkwürdige Markierungen auf die Karte gesetzt. Ein paar Dörfer waren schwarz durchgekreuzt, ein paar waren umkreist. Mit einem roten Stift hatte sie ein paar Pfeile gemalt. An einer Stelle stand „Gregor – R.I.P.“ und das Datum von vor einer Woche.

„Hm. Ich hab’s befürchtet. Kann ich wieder dort drüben auf die Autobahn zurück?“

Lev schüttelte den Kopf.

„Die haben die Autobahnauffahrt gesperrt. Wird eine größere Baustelle, meinen die Leute. Jedenfalls müssen Sie jetzt einen Umweg über die hier fahren.“, er tippte auf der Karte auf die gelbe Bundesstraße.

„Aber lassen Sie sich nicht täuschen. Dieser Streckenabschnitt ist durchgängig einspurig und Tempo 70 ist das höchste der Gefühle. Es gibt Landstraßen, die schöner sind als unsere Bundesstraße.“

„Das sieht nach einem unnötigen Umweg aus.“, murmelte sie.

„Wo wollen Sie denn hin?“

Jetzt musterte sie ihn von oben bis unten und prüfte, wie weit man ihm vertrauen konnte. Das war völlig absurd, dachte Lev. Eigentlich sollte ich Angst vor dir haben, Lady. Und dann hatte er den Dauersender ihrer Mutter im Ohr: „Sprich nicht mit Fremden! Geh nicht zu Fremden ans Auto. Was tust du, wenn ein Fremder dich anspricht? Du läufst, Lev. Du läufst, was das Zeug hält.“

Ein Glück, dass ich schneller laufen kann als so ein Sportauto, nicht wahr, Mutter?

Noch absurder war, dass sie zu dem Ergebnis gekommen schien, ihm nicht zu vertrauen. Denn sie zog ihm die Karte unter den Händen weg, faltete sie wieder zusammen und antwortete ausweichend: „Jedenfalls nicht auf die Bundesstraße.“

„Soll ich dich vielleicht nach Hause fahren?“, fragte sie auf einmal. „So als Dankeschön.“

Er zuckte mit den Schultern. Dann stieg er ein.

Dann läufst du! Du läufst was das Zeug hält. Auf keinen Fall, Lev, auf aller keinen Fall, steigst du zu einem Fremden ins Auto ein. Ganz egal, was er dir verspricht.

Vielleicht hätte sie ihm etwas versprechen sollen, dachte er. Dann hätte es sich wirklich gelohnt, sich zu ihr auf den Beifahrersitz zu quetschen. Man saß viel zu niedrig in diesem Auto. Es war fast, als ob man liegen würde.

Er zeigte in die Richtung, in die sie zu fahren hatte und als sie endlich losfuhren, fragte sie: „Was hast du eben eigentlich damit gemeint, als du gesagt hast, dass keine gute Zeit ist?“

„Passieren halt ein paar dumme Dinge gerade.“

„Dumme Dinge.“, wiederholte sie. Und Lev ergänzte: „Erst schlägt der Blitz in die alte Kornmühle und der baufälligste Schuppen der Gegend brennt bis auf die Grundmauern ab. Ein paar Dörfer weiter hat ein Besoffener dann ein paar Geschichten erzählt: von einem Galgen und einem Gehängten. Total kranker Typ. Keiner glaubt dem, wissen Sie. Aber -“

„Aber?“

„Naja, das ist halt Atmosphäre und so.

„Mhm.“, machte sie und bog ab Richtung Hauptstraße.

„Es verschwinden Kinder.“, sagte Lev dann. „Drei Stück schon. Der erste vor einem Monat, der zweite letzte Woche.“

„Und der Dritte?“

„Die Dritte. Ein Mädchen. Sieben Monate alt. Vorgestern.“

„Wie kann ein sieben Monate altes Mädchen verschwinden?“

Lev zuckte die Schultern. Dann sagte er, was er schon seit einiger Zeit gedacht hatte, aber noch nie gesagt: „Es verschwinden dieses Jahr doch viele Kinder.“

Er spürte wieder sein Blut im Gesicht rauschen. Aber es war doch so, oder nicht?

Die Leute sahen einfach nur nicht richtig hin. Das dachte er schon seit einiger Zeit. Wenn man genau hinsah, dann waren die ganzen Nachrichten doch voll davon, dass Kinder verschwanden. Eins in Berlin, eins in Spanien, ein anderes im Urlaub. Ein Bus voller Kinder ging auf der Autobahn einfach so in Flammen auf. Ständig etwas Neues. Und ja, natürlich: die Leute schüttelten die Köpfe und sagten: „Schlimm, wie kann so etwas nur passieren.“ Aber niemand sagte: „Hey, ist dir eigentlich schon aufgefallen, dass es dieses Jahr mehr sind als sonst?“

Lev hatte sich schon immer gefragt, wie ein Kind einfach so verschwinden konnte. Einfach so von der Bildfläche verschwinden. Es gab die Geschichten von weißen Transportern, in die Kinder reingelockt wurden mit dem Versprechen, dort könnten sie kleine Kaninchen oder süße Hamster sehen. Eine andere Geschichte erzählte, dass in einem größeren Möbelgeschäft ein Kind plötzlich von den Eltern getrennt wurde. Die Eltern hatten das Verschwinden sofort bemerkt und einen Mitarbeiter um Hilfe gebeten, der sofort einen geheimen Warncode über Funk weitergab. Sofort wurden alle Ausgänge blockiert und eine Durchsage verriet: „Gesucht wird die kleine Hannah Abendstern“ – oder wie auch immer das Kind hieß – „sie trägt einen roten Pullover, hat lange blonde Haare und eine Zahnspange mit gelben Gummis.“

Wenig später rief man die Eltern zu den Herrentoiletten. Dort fand man die kleine Hannah Abendstern. Der Fremde hatte ihr den roten Pullover ausgezogen und gegen einen hässlichen Mantel getauscht, die Haare waren komplett abrasiert. Nur die Zahnspange mit den gelben Gummis hatte man ihr nicht rausreißen können.

Aber das war die einzige Geschichte, die wenigstens so weit erzählt werden konnte. Alle anderen Geschichten hörten auf und hatten nie ein Ende. Immer nur den Anfang: Es war einmal Kind. Und es verschwand.

Man denkt nie, dass diese Geschichten woanders als in den Nachrichten erzählt werden, nicht wahr?

Sie fuhren sogar an dem gelben Haus vorbei, in dem das sieben Monate alte Mädchen verschwunden war. Als sie dort vorbei kamen, sahen sie die Schilder, die die Eltern in den Garten gerammt hatten. Vier riesige Plakate mit dem Gesicht des Säuglings und dem Wort „Vermisst“. Auf einem Schild stand statt dessen ihr Name: „Clementine“. Rund um das Schild waren Blumen nieder gelegt, Kränze, Kerzen, Stofftiere.

Es lief Lev kalt über den Rücken.

Ihm fiel auf, dass sie langsamer geworden war und jetzt wiederholte sie die Frage: „Scheiße, wie zur Hölle kann ein sieben Monate altes Kind verschwinden?“

Lev zuckte wieder nur mit den Schultern.

„Der Vater hat sogar noch Glück.“, sagte er. „Ich wette, normalerweise hätte man ihn zuerst verdächtigt, dem Kind etwas angetan zu haben. Aber weil es da die beiden anderen Kinder noch gibt, die spurlos verschwunden sind und er in beiden Fällen auf einer Auslandsreise war, sind alle von Anfang an überzeugt davon, dass …“

„Sag’s nur.“, meinte sie. Ihr Blick war stechend.

„Dass jemand Fremdes die Kinder einfach von der Straße pflückt wie Äpfel vom Baum.“

Sie nickte. Und dann sagte sie genau das, was er schon von Anfang an gesagt hatte:

„Keine gute Zeit fürs Vertrauen, wie?“

Ohne um Erlaubnis zu bitten, steckte er sich eine Zigarette in den Mund.

„Wenn Sie wollen, zeig ich Ihnen noch die anderen beiden Häuser. An einem kommen wir sowieso vorbei. Aber machen Sie nicht zu langsam. Nicht, dass man ihrem unauffälligen Auto noch misstrauisch hinterher glotzt und sich ihr Nummernschild notiert.“

 

Weiter mit Teil (2)

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