Kinderfänger (2)

Dies ist der zweite Teil der Kinderfänger-Shortstory. Auf Instagram wurde gewählt, ich soll wieder eine Horrorstory schreiben. Und was eignet sich besser, als die vielen verschwindenden Kinder in einer kleinen Gegend, in der jeder jeden kennt. Außer die Frau mit dem Sportwagen.

Zum ersten Teil geht es hier.

 

„Clementine, wie kann man sein Kind Clementine nennen?“

„Es hat halt jeder einen anderen Geschmack, Schatz.“, Levs Vater kratzte sich unter der Kravatte. „Muss ich das Ding tragen?“

„Es ist dein Boss.“, sagte Levs Mutter einfach nur und dann sah sie Lev an, richtete seinen Kragen und dann hatten sie bis zum Haus kein Wort mehr gesprochen.

Von allem, was sie je über die Familie Wies geredet hatten, sollten diese zwei Sätze Lev am stärksten in Erinnerung bleiben. Denn als ein paar Monate später die Nachrichten sich wie ein Lauffeuer durch das Dorf ausbreiteten, wurde immer wieder der Satz wiederholt: „Clementine ist verschwunden“ und er würde sofort, ohne dass er etwas dagegen tun konnte, denken: „Clementine, wie kann man sein Kind Clementine nennen?“ und dass jeder einen anderen Geschmack habe. Nur dass dieser Satz sich in seinem Kopf ganz besonders bitter und ganz besonderes krank anfühlte. Jeder hatte eben einen anderen Geschmack, nicht wahr?

Im Endeffekt, dachte Lev, im Endeffekt war es scheiß egal, welchen Namen man trägt. Wenn man verschwindet, ist dein Name völlig egal. Und dein Gesicht ist wie eingefroren in den Erinnerungen der Menschen. Es vergehen Jahre, Unendlichkeiten vergehen. So sehr er sich auch zu erinnern versuchte, ihm fiel nicht eine einzige Nachricht ein, in der ein verschwundenes Kind jemals wieder gefunden worden war. In allen Fällen hieß es immer nur: Die Suche wurde eingestellt. Oder: Auch wenn die Behörden die Hoffnung aufgegeben haben, die Eltern kämpfen weiter. Und jedes Jahr verging vor den Augen dieser Eltern und die Bilder der verschwundenen Kinder blieben immer gleich und vergingen nicht. So als ob die Gesichter einfroren in der Zeit. Sie werden genauso wenig älter, wie sie auch nicht gefunden werden.

Die Fremde im Auto hatte es zwar wortlos akzeptiert, dass er einfach rauchte, aber sie akzeptierte den Rauch nicht. Denn genauso wortlos hatte sie mit einem Knopfdruck sein Fenster runter gefahren.

„Wie kommst du darauf, dass ich mir die Häuser von verschwundenen Kindern ansehen will?“, fragte sie.

„Dann nicht.“, sagte er einfach nur. „Sie können direkt hier abbiegen. Dann sind wir schneller.“

Aber sie bog nicht ab. Und Lev grinste.

„Dacht ich mir.“, sagte er. „Ich hab’s am Blick gesehen. Bei Ihnen ist es nicht so wie bei den anderen, wissen Sie. Die anderen haben so etwas Sensationsgeiles in ihren Blicken. Sie gar nicht.“

„Ich hab kein Interesse an Sensationen.“, sagte sie.

Lev nickte. „Sieht auch nicht so aus. Sie haben schon Sachen gesehen, nicht wahr?“

„Wenn du diese Schilder in den Vorgärten meinst. Oder an den Straßenlaternen, …“

Der Anblick musste verstörend sein, wenn man es zum ersten Mal sah. Sobald man in die Löns-Straße einbog und sich der gewaltige Felsblock, der direkt in der Innenkurve die Sicht versperrte, an einem vorbeigeschoben hatte, sah man sich nur noch mit Plakaten konfrontiert. An jeder Straßenlaterne, an jeder Hauswand. Überall hingen mit Kabelbinder befestigt die Gesichter eines Jungen, mit leuchtend roten Herzen beklebte Poster. Wo ist Tom?, stand da fast überall. Und auf der Straße stand mit Kreide: „Tom Lebt“

„Als ob der das Kind am meisten vermisst, der am meisten Bilder rausstellt.“, sagte Lev trocken. „Bringen tut das alles ja nichts, oder?“

Die Frau blickte eisern geradeaus.

Also redete Lev weiter: „Ich glaube nicht, dass jemand, der ein Kind entführt, sich von einem Poster angesprochen fühlt und das Kind einfach zurückbringt. Oh sieh nur, dieses Kind wird von so vielen Leuten aus der Straße vermisst. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich werde es zurückbringen. Hoffentlich vergisst es, wie ich ausgesehen habe.“

„Du glaubst, dass die Kinder schon tot sind, hab ich Recht?“, fragte sie.

Lev wusste es nicht, ganz ehrlich. Das war ja das Schlimme an der Sache. Das Nichtwissen. Die vollkommene Leere. Man konnte sich weder ein totes Kind im Wald verscharrt vorstellen, noch auf einer Autopritsche oder in einem Container, der mit einem Schiff über den Ozean gebracht wurde. Man konnte sich das alles gleichzeitig vorstellen und wieder nicht. Ein verschwundenes Kind war einfach nur das eingefrorene Gesicht an den Straßenlaternen. Ohne rasierten Kopf. Ohne andere Kleider. Ohne Älterwerden. Ohne Narben. Ohne Schmutz. Ohne Schmerz.

„Der sieht aus, als wär er in deinem Alter gewesen.“

„Tom? Ja.“

„Hast du ihn gekannt?“

„War auf meiner Schule. Würde es Ihnen was ausmachen, da vorne am Zigarettenautomaten kurz anzuhalten?“

Sie fuhr an dem Automaten vorbei und Lev verzog angewidert die Mundwinkel.

Sie sagte: „Erzähl mir doch von ihm!“, so als ob sie ihn gar nicht gehört hätte.

„Es gibt eine Gemeinsamkeit.“, sagte Lev statt dessen und beobachtete mit Genugtuung, dass ihre Augenbrauen sich hoben. „Das ist es doch, was sie hören wollen, oder? Sie suchen nach Gemeinsamkeiten bei den Kindern. Es gibt eine. Aber eine, die man nicht auf Anhieb sehen kann.“

„Wie kommst du auf so einen Unsinn? Ich suche keine Gemeinsamkeiten oder Gründe. Ich hab einfach nur Mitleid.“

„Klar.“, sagte er. „Mit fremden Gesichtern.“

„Hinter jedem Gesicht steckt eine Seele.“, sagte sie. Ihre Stimme klang viel zu hart für diese Worte. So als unterdrücke sie ein Lachen oder etwas anderes, was ihr in der Kehle steckte.

„Es sind nicht die Kinder, von denen man es erwarten würde, dass sie verschwinden.“, erklärte Lev. Es war noch nicht so lange her, dass er die gleichen Gedanken zu Tom gesagt hatte. Er und Tom hatten verschiedene Theorien gehabt. Wie so ein kleines Spiel hatten sie die Dinge um sich herum beobachtet und analysiert. Sie hatten Zeitungsartikel ausgeschnitten und an einer Pinnwand gesammelt. Wie im Fernsehen hatten sie die Hinweise markiert und mit Fäden verbunden. Als ob das die Sache übersichtlicher und klarer hätte machen können. Toms Bruder hatte sie dafür immer ausgelacht.

„Seid ihr nicht zu alt zum Detektiv spielen?“

„Wir spielen nicht Detektiv.“, hatte Tom trotzig geantwortet.

„Klar. Und was soll die Wand hier? Oder soll das etwa ein Schrein sein?“

Tom hatte es ihm erklärt. Hatte mit dem Finger die Linien und Verbindungen nachgefahren: „Sieh mal auf den Kalender, der in der Mitte. Da sind die Daten, als die Kinder verschwunden sind und siehst du hier: immer drei Tage vorher?“

„Brand in der Kornmühle.“, las Lev den Zeitungsartikel vor, von dem ein brauner Faden zu dem ersten genannten Termin führte. Und beim zweiten: „Brand im Archiv der Zeitungsredaktion des Saarsteinboten“

Lev sagte: „Und jetzt hier: schau mal: die Legende des Gehängten, die Legende vom Nebelpferd, …“

„Was soll das sein? Gruselgeschichten?“

„Das sind Legenden hier aus der Gegend. Und die tauchen momentan alle irgendwie wieder auf. Ein Betrunkener hat auf dem Heimweg zum Beispiel den Gehängten gesehen, genau wie es in der Legende heißt, …“

Tom fuhr aufgeregt fort: „Und auf dem Spielplatz hinter dem Gelbteich ist auf einer Wiese ein unbekanntes Pferd aufgetaucht, das Richtung Stadt galoppiert ist.“

„Es gibt eine alte Sage aus dem Mittelalter, hier, lies, das Nebelpferd, …“

„Alles Ereignisse, Rund um das Verschwinden der Kinder. Ein Brand, unheimliche Begegnungen, …“

„Das sind aber keine Zeitungsartikel, das hier.“, fiel Toms Bruder auf. „Das sind Facebookeinträge von Leuten aus der Umgebung. Wow. Ihr seid echt einer heißen Sache auf der Spur. Wisst ihr was, vielleicht solltet ihr dem alten Kohlberg mal hinterherschleichen. Ich hab gehört, der geht seiner Frau fremd. Wenn ihr das macht, könnt ihr vielleicht wenigstens ein paar gewinnbringende Fotos machen.“

„Wir spielen nicht Detektiv.“, protestierte Tom. „Lev ist es aufgefallen und …“

„Ok, wenn ihr so verdammt klug seid: dann verratet mir doch mal eins: Wird wieder ein Kind verschwinden? Und wenn ja: wann, wo, wer? Seht ihr. Keinen Plan habt ihr. Spielt ruhig weiter euren Babyscheiß. Ist mir egal.“

Solltest du uns nicht warnen? Solltest du nicht eigentlich sagen: Das ist zu gefährlich, was ihr da tut. Hört besser auf, sonst ist es einer von euch beiden, der als nächstes verschwindet? Ist nicht das genau das, was ein großer Bruder zu seinem kleinen Bruder und dessen besten Freund sagen sollte?

Die Frau im Auto sagte: „Du hast Detektiv gespielt, hab ich Recht? Du glaubst, du könntest das Geheimnis lösen. Stimmt’s?“

„Ich glaube einfach nur, dass ich was gefunden habe, was andere übersehen.“

„Schieß los, wenn du so klug bist.“, forderte sie auf und es überraschte Lev, dass ausgerechnet sie die erste seit langem war, die keinen Spott in der Stimme versteckte. Sie meinte es ernst. Sie wollte wirklich wissen, was er darüber dachte.

 

„Die Gnuwanderung in der Serengeti.“, sagte Lev. „Die hat mich auf die Idee gebracht. Es war eine Dokumentation im Kino. So ein Naturfilm. Meine Eltern wollten unbedingt rein und haben mich mitgeschleppt. Und da ist es gesagt worden.“

„Gnus in der Serengeti?“

„Alle denken immer, dass es die Außenseiter sind, die am ehesten entführt werden, oder? Die, auf die keiner achtet. Das Kind, das als letztes noch auf dem Spielplatz spielt, ganz allein oben auf dem Klettergerüst. Oder das Kind, das von den Eltern unbeaufsichtigt zurückgelassen wird. Kleine Mädchen eher als große Jungs. Die schwachen, die leicht zu überzeugenden. Verletzte, unschuldige, naive. Aber so ist es in Wirklichkeit gar nicht. Das ist mir zu allererst aufgefallen. Klar, Clementine, ein kleines Baby, das sieht erstmal so aus, als wäre es ein gutes Opfer. Da ist kein Kampf, nichts. Aber die Familie Wies ist schweinereich, wissen Sie. Die haben zwei Haushälterinnen, eine Haushaltshilfe, einen Typen, der so etwas ähnliches wie ein Butler ist. Die haben Alarmanlagen und das Kinderzimmer liegt vorne zur Straße raus, wo man es verdammt gut sehen kann, wenn jemand reinklettert. So hilflos und unschuldig und leicht ist es gar nicht, das Kind mitzunehmen.

Die Gemeinsamkeit zwischen den verschwundenen Kindern ist so offensichtlich, dass es einem gar nicht auffällt, wissen Sie. Und dann kam dieser Film mit den Gnus. Das sind eine Million Gnus, die jedes Jahr eine Massenwanderung machen. Die rennen von einem Ende der Serengeti zum anderen Ende. Und das ist eine so große Menge, dass sich automatisch noch andere Tiere anschließen. Zebras und Antilopen zum Beispiel. Und wissen Sie wieso?“

„Nein, keine Ahnung.“

„Aus Sicherheitsgründen. Diese Tiere werden alle gejagt, von Löwen etwa. Und wenn eine Antilope sich ganz allein auf den Weg macht, dann ist es ein hilfloses Opfer und wird gerissen. In der Meute hat es den Vorteil der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Klar, ein Löwe kann einfach reinspringen und sich irgend ein Tier schnappen. Aber eben nur irgend ein Tier. Es ist nicht das schwächste, hilfloseste, langsamste Tier, das er sich schnappt. Er schnappt sich das erstbeste. Das Jagdtier springt rein und eines der Tiere, das gerade zufällig am Rand läuft, wird gepackt und gerissen.

Wir Kinder sind wie eine Herde Gnus. Und wenn jemand ein Kind will, dann schnappt er sich das, das gerade am Rand vor ihm auftaucht. Still und leise.“

„Das klingt, als ob dein Kinderfänger sich wie ein Raubtier verhält.“, sagte sie.

„Ja. Wissen Sie was?“

„Was?“

„Diese Gnuwanderung und die Raubzüge der Raubtiere, die erfolgen regelmäßig. Da gibt es Muster, die jedes Jahr aufs Neue …“, er brach ab.

Die Fremde legte beim Einlenken in eine Kurve ihre Hand auf seinen Oberschenkel. Sie zischte: „Still jetzt. Muss mich konzentrieren.“

Und als Lev aufsah, erkannte er die Polizeikontrolle. Ein Polizist stand Mitten auf der Straße und winkte sie für eine Kontrolle zur Seite.

Sie gab einen brummenden Laut von sich. Und Lev sagte:

„Man reagiert hier empfindlich, wenn fremde Autos mit einheimischen Kindern durch die Gegend kurven.“

„Kann ich verstehen.“

Sie fuhr das Fahrerfenster runter. Der Polizist sah aus wie eine Mischung aus Filmschauspieler und Metzger. Die grobschlächtigen Hände legten sich auf den Rahmen ans Fenster, so als könne er damit das Auto am Wegfahren hindern. Er hatte eine ungewöhnlich sanfte Stimme.

Wie ein Wolf, der Kreide gefressen hat, dachte Lev.

Und dann sagte er:

„Ist hier alles in Ordnung?“

Sie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, um die Sache zu erklären, aber Lev kam ihr zuvor:

„Klar, Onkel Vic. Es ist alles in Ordnung. Ich kann auf mich selbst aufpassen.“

Es war göttlich, zu sehen, wie ihre Augen kurz vor Panik aufflackerten.

Sie blickte zwischen dem Polizisten und Lev hin und her. Hinter ihrer Stirn rasten die Gedanken und Lev wusste genau, was ihr gerade alles durch den Kopf ging. Sie versuchte sich einen Reim auf die Sache zu machen und dann, als sie ihn gefunden hatte, als sie begriff, was das gemütliche Lächeln des Jungen zu bedeuten hatte, der in aller Seelenruhe neben ihr auf dem Beifahrersitz bedeutete, sagte der Polizist:

„Du spielst wieder Polizei, hab ich Recht?“, kein Unterton von Spott. Nur unterdrückter Zorn. Hab ich dir nicht gesagt, dass du dich raushalten sollst, das klang zwischen den Worten des Polizisten so eindeutig heraus, dass auch sie es verstehen musste.

„Ich zeige ihr nur den Weg aus der Stadt.“, sagte Lev.

Er wandte sich an die Fremde: „Darf ich bitte Ihren Führerschein sehen und ihre Fahrzeugpapiere?“

Sie gab ihm die Sachen. „Er hat mir bereits erzählt, dass hier Kinder entführt werden.“, sagte Sie. „Ich kann mir gut vorstellen, dass es eine unglückliche Zeit ist, als Fremde, sich von einem Jungen den Weg zur Bundesstraße zeigen zu lassen, …“

„Eine unglückliche Zeit?“, knurrte der Polizist. „Steig aus Lev, jetzt übernehme ich die Sache. Ich zeige der netten Frau wie man zur Bundesstraße kommt.“

Levs Mund verzog sich gequält.

Aussteigen war das letzte, was er jetzt wollte.

Angestrengt suchte er nach einer Lösung. Aber alles, was er in seinem Kopf hören konnte, war Tom:

„Wir geben nicht auf, nicht wahr, Lev? Wenn wir aufgeben, dann heißt das, dass irgendwo wieder ein Kind verschwindet. Wenn wir beide das verhindern können, dann sollten wir das auch tun.“

„Denkst du, wir haben eine Chance?“, hatte Lev zurückgefragt. Und Tom hatte geantwortet: „Das sag ich dir in zehn Minuten, wenn ich bei dir bin. Ich mach mich jetzt auf den Weg.“

Nicht nur Gesichter können einfrieren. Auch Sätze, nicht wahr Tom?

Das sag ich dir in zehn Minuten, wenn ich bei dir bin.

Die letzten Worte, bevor er verschwand.

Scheiße, Tom, ich bin ganz nah dran. Ganz nah!

Weiter mit Teil (3)?

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