Kinderfänger (4)

Eine Horrorgeschichte baut sich meiner Meinung nach langsam auf (Zum ersten Teil geht es hier). Aber es muss sich ein Konflikt aufbauen, der weitere Hintergrundinformationen bringt. (Zum zweiten Teil geht es hier) Die genannten Konflikte müssen sich verschärfen, der Protagonist muss in die Enge getrieben werden und vor eine Entscheidung gestellt werden (Zum dritten Teil geht es hier).

Und damit wären wir auch schon beim vierten Teil. Ist die Entscheidung einmal getroffen, wird es so schnell keinen Weg zurück geben. Die Sache spitzt sich zu. Und ob man richtig liegt, oder sich irrt, können erst zukünftige Teile zeigen. Hoffen wir das beste für die verschwundenen Kinder.

 

Im Dorf galt ein einfaches Gesetz: Jeder kennt jeden und alle wissen alles.

Dass Kinder plötzlich die Kinder verschwanden und niemand etwas wusste, schlug so dermaßen gegen das alltägliche Dorfgefühl, dass es wirklich niemanden kalt ließ.

Vom Fenster aus, in Toms Zimmer, hatten Lev und Tom die große Mahnwache beobachtet. Die vielen Menschen, die sich solidarisch zeigen wollten und direkt nach Einbruch der Dunkelheit Kerzen durch die Stadt trugen. Man hatte gesagt, dass jeder, der nicht mitgehen wollte oder konnte, statt dessen eine Kerze ins Fenster und an die Tür stellen könne. Und deshalb brannten überall kleine Flammen der Zuneigung.

„So sieht Gemeinschaft aus.“, hatte Tom gesagt. „Eigentlich ziemlich cool.“

„Eigentlich ziemlich mies.“, hatte Lev geantwortet. „Die wissen doch sonst immer alles. Wieso weiß jetzt einfach keiner, wer der Kinderfänger sein könnte. Es gibt ja nicht mal Vermutungen.“

Zu Levs großer Überraschung hatte Tom geantwortet: „Ausgerechnet du solltest es besser wissen.“

„Was meinst du damit?“

„Dass es nicht stimmt. Jedes Dorf hat immer nur das Gefühl, alles über jeden zu wissen. Aber in Wahrheit gibt es unfassbar viele graue Flecken. Es gibt diese dunkle Zonen, in die jeder sein Geheimnis hineintragen kann und selbst entscheiden kann, wen er hineinlässt. Wir denken zum Beispiel da unten“, er tippte auf die Fensterscheibe gerade als die Familie Wies vorbeiging. „Konrad Wies. Liebevoller Vater, Ehemann. Leiter im Baugewerbe. Großes Tier.“

„Der Kerl hat irre viel Scheiße am Schuh.“, widersprach Lev. „Mein Vater meint, bei dem geht es zu wie bei der Mafia. Zementmafia nennt er die jedes Mal, wenn wir bei denen vorbeifahren. Da hast du deine dunkle Zone.“

Aber Tom ließ sich nicht beirren. „Hast du eine Ahnung. Das ist doch nicht mehr als Gerüchte und Gefühle. Wir wissen überhaupt nichts. Kann sein, dass der Kerl sich jeden Abend in den eigenen Keller schleicht und Kinderpornos schaut. Wer weiß das schon? Seiner Frau sagt er vielleicht, dass er kleine Holzschiffe in leeren Glasflaschen aufbaut. Und vielleicht macht er das ja auch wirklich, aber eben nur zur Tarnung. Die meisten haben ziemlich viele, gute Strategien um ihre dunkle Zonen zu schützen.

Wie sieht es denn mit dir aus, Lev? Wer außer mir weiß denn, dass du rauchst?“

Lev schwieg.

„Hältst du dich wirklich für so klug und einzigartig, wie sonst keiner im Dorf? Ich glaub, dass da unten jeder einzelne seine dunkle Zone hat. Vielleicht sind es Drogen, ein Fernglas, mit dem man das Haus gegenüber beobachten kann, wenn die Frau duschen geht. Vielleicht eine unterdrückte Homosexualität. Vielleicht total harmlose Sachen, wie zum Beispiel die Geschichte mit Simon. Erinnerst du dich?“

„Simon Krefelder?“

„Der hat monatelang immer nur Freunde besucht, sich nie selbst besuchen lassen. Hat immer gute Ausreden gefunden, warum niemand zu ihm nach Hause kommen kann. Ist auch niemandem aufgefallen. Irgendwann hat da mal einer einen Witz gemacht, der gar nicht gegen Simon selbst ging. Einfach nur so, weiß schon gar nicht mehr, über ein versifftes Haus. Und Simon hat gedacht, dass es um ihn geht. Er ist sofort durchgedreht und hat total übertrieben reagiert. Da sind alle dann richtig neugierig geworden. Mein Bruder hat erzählt, dass er hingefahren ist und einfach bei Simon geklingelt hat. Er wollte wissen, ob alles in Ordnung war. Und als Simon die Tür aufgemacht hat, war alles irgendwie total komisch. Hat rumgedruckst und die Tür nicht richtig aufgemacht.

Aber auf einmal, mein Bruder wollte grade wieder gehen, hat er gesagt, auf einmal ist jemand von hinter Simon gekommen, hat die Tür einfach aufgerissen, so dass Simon fast aus dem Haus rausgefallen wäre. Und mein Bruder hat alles ganz genau gesehen:

Die Wohnung war ein richtiger Schweinestall. Alle Möbel waren kaputt, kurz und klein geschlagen. Und in der Tür steht Simons Mutter mit total zerrupften Haaren und einem vollkommen irren Blick und faselt irgend einen Schwachsinn vom Weltuntergang und dann fängt sie plötzlich an zu weinen.“

„Ist nicht wahr!“

„Doch, sie hat irgend so eine Nervenkrankheit. Kann man nichts machen. Das Gehirn frisst sich quasi selbst auf.“

„Und Simon?“

„Hat sich geschämt wie verrückt. Und hat niemanden reingelassen. Manchmal hat die Mutter zu Hause einfach gewütet und Simon hat nicht die Kraft gehabt, alles immer in Ordnung zu bringen und nach außen so zu tun, als ob alles normal wäre. Er hat einfach immer schön brav die Fassade gepflegt. Hat den Rasen gemäht, hat die Blumen gegossen. Hat die Hausaufgaben gemacht und war immer schön pünktlich in der Schule und so. Hauptsache, niemand kriegt etwas mit.“

„Und das nennst du vollkommen harmlos.“

„Naja, tragisch ist es schon und schlimm und so. Aber es ist ja nichts, wofür Simon was kann. Nicht so wie heimlich Kinderpornos im Keller schauen.“

„Oder Kinder fangen.“

„Oder das.“

Sie schwiegen. Wenn man lange genug den Kerzenzug vom Fenster aus beobachtete, sah man gar nicht mehr die einzelnen Leute. Man sah nur noch eine Masse an Menschen mit Kerzen. Man sah nur noch diese Solidarität, die auf einmal gar nicht mehr so gut schmeckte, wie noch am Anfang.

„Einer von denen ist es, denkst du? Einer von denen ist der Kinderfänger?“, fragte Lev.

„Die haben alle ihre dunklen Zonen. Und einer sammelt in dieser Zone Kinder. Ja, das denk ich.“

Lev dachte das heute nicht mehr. Nicht mehr so einfach jedenfalls.

Als er in dieser Nacht durch die Straßen schlenderte, standen immer noch in vielen Häusern die Kerzen an den Fenstern. Einige hatten die Kerzen auch an die Eingangstür gestellt. Der Pastor hatte damals eine Rede gehalten und gesagt: „Wir leuchten den Kindern einen Weg zurück zu ihren Eltern.“ Und: „Das Licht leuchtet durch uns alle hindurch. Möge es die Hoffnung spenden und ein Licht in den finstersten Seelen entfachen.“

Geheuchel, dachte Lev bitter.

Er zog aus seiner Manteltasche ein Päckchen Zigaretten hervor und zündete sich jetzt eine an. Heute Nacht war es ihm egal, ob er damit gesehen wurde. Jedes Geheimnis fühlte sich in diesen Tagen wie ein Krebsgeschwür an. Ein mieser, dreckiger, kleiner Klumpen, der einen von innen heraus auffraß. Auf diesen gefräßigen Klumpen hatte er keine Lust. Und er hatte auch keine echte Kraft mehr, dieses Geheimnis aufrecht zu halten.

Vor allem, weil er alle Kraft heute Nacht für etwas anderes brauchte.

Die Fremde war also doch zurückgefahren. Sie hatte gelogen, genau, wie Lev es sich gedacht hatte. Menschenkenntnis hatte er also doch noch. Aber der Plan hatte natürlich nicht richtig funktioniert. Er hatte sich als Falle aufgestellt, als Köder und Falle zugleich. Und sie war gekommen und sie hatte angebissen. Aber sie hatte nicht richtig den Köder geschluckt. Und es hatte zu viele Umstände gegeben. Zu viel Gerede vielleicht und zu wenig Taten.

Onkel Vic war natürlich stinksauer bei ihm aufgetaucht und hatte ihn rundgemacht. Er hatte sich benommen, als ob die Welt und alle ihre Probleme nur Aufgaben der Erwachsenen wären und Kinder nur schmückendes Beiwerk.

„Du wirst hoffentlich irgendwann alt genug sein, um dich den Problemen auf der Welt zu stellen. Aber jetzt bist du verdammt noch mal ein Kind und benimmst dich auch so und lässt dich von den Erwachsenen beschützen.“

Und Levs Mutter hatte immer hinzugefügt: „Wir wollen doch nur dein bestes.“ Und: „Wir haben dich doch lieb“ Und natürlich: „was denkst du, wie es uns geht, wenn du der nächste bist, der …“, der Rest des Satzes blieb natürlich unausgesprochen.

Zu viel Gerede, zu wenig Taten und zu wenig Ausgesprochenes.

Lev atmete den blauen Dunst tief ein und sagte zu einem verschwundenen Tom: „Weißt du, was wahre Solidarität ist?“ Da niemand an seiner Seite ging, der ihm hätte antworten können, antwortete Lev der Leere an seiner Seite irgendwann von selbst: „Was wir hier gerade auf die Beine stellen. Das ist echte Solidarität.“

Er hatte sieben andere Kinder und Jugendliche im Boot. Sie hatten eine Telefonkette gebildet. Und jeder hatte am Fenster gestanden und ihm Bescheid gegeben, wenn das fremde Sportauto an ihnen vorbeifuhr. Es war ein rundum perfektes Zusammenspiel. Sie riefen an und sagten, was sie sahen: 12:10 Uhr – Rosa Jaeger rief an: Fichtestraße. Der Sportwagen war vorbeigekommen und bog ab Richtung Grundschule.

12:16 Uhr – Karl Finkelstein: Am Liebstöckel, direkt gegenüber von der Grundschule. Die Fremde war abgebogen Richtung Clubheim.

12: 20 Uhr – die Löw Zwillinge: Luisenstraße. Die Frau war ausgestiegen, hatte am Friedhof gehalten, war zu ein paar Gräbern gegangen und nach etwa einer halben Stunde wieder eingestiegen und weitergefahren.

Mit jedem Anruf zeichnete Lev die Route der Fremden auf einer Karte ein und umkreiste die Stellen, an denen sie hielt und notierte, was sie wann dort tat.

Sie fuhr offensichtlich wieder an allen Häusern vorbei, in denen die Kinder verschwunden waren. Nach dem Friedhof hatte sie noch einen Abstecher zum Industriegebiet gemacht, wo der Saarsteinbote das Archiv hatte.

Dort war sie am längsten verschwunden.

Und jetzt hielt der Sportwagen seit vierzig Minuten am Waldrand und die Frau saß darin und las oder schrieb etwas.

Als Lev das Gefühl hatte, dass keiner mehr anrief, hatte er sich aus dem Haus geschlichen.

Kurz bevor er den Waldrand erreichte, kam ihm ein mieser Gedanke:

Er konnte sich für einen Augenblick überhaupt nicht mehr daran erinnern, das wichtigste eingepackt zu haben.

Fluchend hielt er inne, zog seinen Rucksack aus, kramte darin und war so erleichtert wie noch nie in seinem Leben, als er das blanke Metall des Kampfmessers in Händen hielt.

Letzte Woche hatte Toms Bruder es ihm gegeben. Und Toms Bruder hatte es bei der Bundeswehr mitgenommen. Es war ein großes, klobiges Messer, das schwer aussah und sich leicht in die Hand schmiegte.

Als Lev nur ein paar Minuten später das Sportauto der Fremden sah, war ihm, als rutschten fette Würmer unter seiner Haut die Wirbelsäule hinunter.

Sie saß auf dem Fahrersitz, hatte eine kleine Taschenlampe zwischen den Zähnen und leuchtete auf ein Notizbuch, das sie aufs Lenkrad gelegt hatte. Sie sah auf, der Lichtkegel rutschte über das Armaturenbrett und suchte die Straße vor ihr ab. Nach ein paar Minuten wandte sie sich wieder dem Notizbuch zu.

Lev drückte die Zigarette aus und schlich sich über die Schatten nach vorne auf sie zu.

Unbemerkt kam er zum Heck des Wagens. Er ging in die Knie und schlich an der Beifahrerseite entlang.

Im Kino sahen solche Szenen immer elegant und cool aus. In Wahrheit war es schwer, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, kein Geräusch von sich geben und das mit dem Rucksack, auf den Knien und so klein und geduckt als möglich.

In seiner Hosentasche vibrierte sein Handy.

Für ihn klang es verräterisch laut. Und erschreckend war auch, dass das Handydisplay durch den Stoff seiner Hose durchleuchtete.

Mit beiden Händen verdeckte er die Tasche.

Denn im nächsten Augenblick öffnete sich schon die Fahrertür und die Fremde stieg aus. Sie stand jetzt also da, nicht weit von ihm entfernt und doch nicht so leicht erreichbar.

In seiner Vorstellung hatte er alles ganz schnell und skrupellos durchgeführt.

Aber in der Realität genügte nur ein einziges Geräusch, um ihn bis ins Knochenmark hinein erstarren zu lassen: eine Serie aus Klicken, die in Filmen ertönte, wenn an einer Waffe überprüft wurde, ob noch Kugeln im Magazin waren.

 

Weiter mit Teil (5)

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