Musik aus dem Wasserhahn (Essay)

 

Man hat als Lehrer immer wieder die Herausforderung, dass man selbst älter wird, während die Klientel immer jünger wird. Man muss sich also darauf einstellen, dass es einen Generationenkonflikt gibt, dass irgendwann der Augenblick kommt, in dem man den anderen nur noch schwer versteht. Ein Beispiel? In meinem ersten Jahr als Lehrer las ich mit einer Klasse eine Geschichte über einen Jungen, der sich im Wald verirrte. Das war an sich keine schwere Erzählung, kein ungewöhnliches Wortmaterial. Aber dennoch verstanden die Kinder das Problem des Textes nicht. Nach einiger Diskussion kristallisierte sich die Frage heraus, wieso der Junge nicht einfach die Eltern anrief. Ich musste erklären, dass der Text – zwar nur zehn Jahre alt – in einer Zeit entstanden war, in welcher nicht jedes Kind einfach ein Handy bei sich trug. Dann die überraschende Erwiderung, da stünde doch, dass das Kind ein Handy besäße. Ich fragte wo? Und dann las man mir vor, das Kind packte seinen „Walkman“ ein.

Man muss hinzufügen, dass in genau diesem Jahr ein Handy auf den Markt gekommen war, das mit dem Begriff Walkman versehen war, um seine Musik-Funktionen zu bewerben. Unter einem Walkman verstand die ganze Klasse also zwangsläufig ein Handy mit Musikfunktion. Dass ein Walkman vor ein paar Jahren noch ein tragbarer Kassettenrekorder gewesen war, war vollends vergessen und überholt.

Die Technik wandelt sich rasend schnell. Man selbst vergisst das, wenn man nicht täglich darauf gestoßen wird.

Und dann kam vor wenigen Jahren meine Lieblingsklasse in den Genuss, mit mir Filmanalyse zu betreiben. Und ich entschied mich für „Sonnenallee“, nichts ahnend, dass auch hier wieder unumstößliche Hindernisse das Verstehen auf völlig unerwarteter Weise gefährdeten.

Wo ist das Problem bei Sonnenallee. Warum wollen die Jugendlichen auf Teufel komm raus eine bestimmte Schallplatte? Weil sie verboten ist? Aber sie gehen doch auf den Schwarzmarkt und hätten die Chance ganz viele verbotene Schallplatten zu kaufen. Aber nein: man rang damit, unbedingt die eine Platte von den Stones zu bekommen. Und alle anderen verbotenen Platten wären wertlos? Überhaupt, warum so ein Fass aufmachen, nur wegen Musik?

Musik, mir dämmerte, dass diesmal das Verständnisproblem darin begründet lag, weil die Klasse und ich unterschiedliche Vorstellungen von Musik hatten. Während es für mich etwas Existentielles darstellt, etwas, womit ich mich als Jugendlicher definiert hatte, womit meine Psyche sich geschliffen hatte, was mir half, über Liebeskummer hinweg zu kommen, meine Aggressionen zu kanalisieren; was mir geholfen hatte, das Leben als ganzes kompakt und verständlich vor die Füße zu legen, das war für die Kinder der heutigen Zeit nur ein Hintergrundrauschen geworden. Die ständige Verfügbarkeit von Musik, der Wechsel der Technik von physischen Datenträgern zu einem ununterbrochenen Streaming, das hatte die Rezeption von Musik völlig verändert.

Mein Freund, Dominik Hammes, nannte es „Musik aus dem Wasserhahn“ oder „Wasserhahnmusik“. Du kannst heutzutage einfach den Wasserhahn aufdrehen und es läuft Musik raus. Ununterbrochen. Und das hat eine Konsequenz: Für mich war Musik ein singuläres Ereignis gewesen. Im Unterschied zu Gemälden zum Beispiel die Kunstform, die zeitlich begrenzt ein einmaliges Erlebnis darstellen konnte. Wenn der letzte Ton verklungen war, dann war von der Musik nur noch Erinnerung übrig. Erst Recht, wenn man sie live miterlebte, auf Konzerte ging. Das machte doch Konzerte zu etwas Herausragendem. Heraklit konnte nie zweimal in den selben Fluss springen. Ich konnte nie zweimal das gleiche Lied live hören. Bei Schallplatten, Kassetten und CDs war das schon eher möglich, aber doch auch irgendwie nicht. Weil die Musik ganz kitschig Saiten in mir anstieß, so dass die selbe Musik nie zweimal das gleiche Ich vor sich sitzen hatte. Und das war jetzt vorbei.

Wenn Musik, wie Dominik sagte, immerzu verfügbar aus dem Wasserhahn rauschte, dann hatte das Konsequenzen für die Hörerschaft. Wie ich aber auch finde: es hat Konsequenzen auf die Musik selbst.

Um das Jahr 2000 herum, genau weiß ich es nicht mehr, las ich in einem Interview mit Marius Müller Westernhagen, dass er es bedauere, dass die Musikindustrie so funktioniere, dass es kaum noch Lieder mit Gitarrensoli gab. Das Solo sei am Aussterben, bedauerte Westernhagen. Weil keiner mehr die Zeit mitbrachte, sich auf ein Solo einzulassen. Im Radio, erfuhr ich Jahre später, entscheiden die ersten 15 Sekunden, ob ich ein Lied hören möchte, oder ob ich umschalte. Es gäbe wirklich irgendwo ein Testpublikum für Musik, die nur die ersten 15 Sekunden von Liedern hören mussten, um dann zu entscheiden, ob man das Lied gerne zu Ende hören wolle oder nicht. Kein Wunder, dass kein Lied mehr wie bei Pink Floyd mit einem startenden Helikopter beginnt. Oder man erinnere sich an den musikhistorischen Beginn von We will rock you, bei welchem es ewig lange dauert, bis sich zum Schlagzeug endlich ein zweites Instrument dazu gesellt.

Jetzt hat Apple gerade angekündigt, man wolle auf ITunes künftig verzichten und gebe sich was den Downloadmarkt angeht, geschlagen. Man akzeptiere, dass die Zukunft der Musik dem Streaming gehört und nicht mehr der Physikalität der Musik. Heißt: Physisch hat in Zukunft keiner mehr Musik? In Zukunft gibt es nur noch Wasserhähne, aus denen ein ewiger Strom aus Bestsellern läuft. Aber wie gelingt einem dann der Bestseller?

Ich las in einigen Kommentaren, dass Streamingdienste mehr Geld verdienen, wenn man mehr Lieder hört. Also wird „I would do anything for love“ von Meat Loaf kaum Zukunft haben. Denn das Lied dauert knapp acht Minuten. Stelle man sich vor, man würde als Künstler nur noch 2 Minuten lange Lieder komponieren, dann könnte der Streamingdienst mit diesen Songs viermal soviel Geld verdienen.

Die ersten 15 Sekunden entscheiden? Also müsste man auf ein Intro verzichten, ziemlich schnell zum ersten musikalischen Höhepunkt kommen – am besten direkt damit beginnen – und wenn man diesen ganzen Vorgaben folgt, darf man sich nicht wundern, wenn alle Lieder auf einmal gleich klingen. Von der bewährten Akkordfolge C – Am – F – G – C einmal ganz abgesehen.

Da ist es gar kein Wunder, wenn ich Gänsehaut bekomme, wenn Cat Stevens „Sad Lisa“ singt und die kommenden Generationen sich fragen, wie das denn sein könne.

Bei der Anmeldung meiner Tochter in eine Musikschule, mussten wir zuerst ein ernstes Gespräch mit dem Musiklehrer führen: Wir sollen auf keinen Fall davon ausgehen, dass wir unsere Tochter bei ihm abgäben und er ein Freizeitgestalter sei. Musik, sagte er, sei nicht so etwas wie der Kinderturnverein. Hier müsse man Hausaufgaben machen, man müsse Arbeiten, um Musik zu beherrschen. Erst, wenn man sich dafür einsetzt und man sich damit auseinandersetzt, die Musik in sein Leben zu lassen, kann man eine Leidenschaft für die Musik überhaupt besitzen. Ob wir auch musikalisch wären?

Ich sagte ja, gestand aber auch, dass mein Leben lang die Instrumente mich beherrschten und nicht ich die Instrumente. Er lachte. Dann, sagte er, wissen sie, wovon ich spreche.

Ja, ich glaube, es zu verstehen. Die Welt hat viel von der Musik aus ihrem Leben verbannt. Leidenschaft für Musik ist irgendwie ausgestorben. Oder: ist vom Aussterben bedroht.

Beim Rausgehen fällt mein Blick auf ein Protestplakat. Da steht, dass die Kreismusikschulen kaum Geld vom Land an Fördermitteln bekommen. Wieso sollten sie auch? Das wäre ja, als ob man unter einem Musiklehrer mehr versteht, als ein Arbeiter im Wasserwerk.

„Was erwarten Sie von der Musik?“, das hätte der Musiklehrer eigentlich fragen sollen.

Und Dominik Hammes hat es so formuliert: Die große Dreifaltigkeit des Irrsinns: Globalisierung, Kapitalismus und moderne Technik haben ihre Wirkung gehabt: Geschwindigkeit, Einfachheit und Preiskontrolle bestimmen die Kunst mit.

Wenn das ungebrochen so weiter geht, wird – zumindest bei Musik – von Kunst nicht mehr viel übrig sein.

Und jetzt mal ehrlich: Wer hat sich in letzter Zeit mal in aller Ruhe ein Konzeptalbum angehört? Von vorne bis hinten. Ohne zu springen. Bewusst. Vielleicht wie früher: auf dem Boden vor den Lautsprechern auf dem Bauch liegend und träumen, während die Seele langsam abtaucht in die von Melodien, Rhythmen und Harmonien geprägte Welt?

Was sagt ihr dazu?