Was Platon über Instagram und Knight Rider sagen würde (Essay)

Ein altes Sprichwort kennt noch den Ausdruck „Bilderbuchleben“ oder „ein Leben wie im Bilderbuch“. Wenn ich mich an alte Bilderbücher zurück erinnere, dann sehe ich pausbäckige Mädchen mit wehenden Röckchen, lausbübige Kinder, staubige Landstraßen. Und die meiste Zeit Sonnenschein, idyllisches Dorfleben mit Tieren, deren Vornamen man meist kennt und gebrochene Rehbeine, die der Förster mit einem Verband zu heilen versteht.

Bilderbücher erzählen immer von einem kindlichen Utopia. Und sie prägten uns und prägten uns irgendwie nicht. Ich wollte nie wie Heidi auf der Alm leben oder wie Hänsel und Gretel im Wald. Die Illustrationen aus den Astrid Lindgren Büchern waren gerade deshalb so toll, weil sie von einer anderen Welt erzählten, die mit meiner nichts zu tun hatten. Aber sie lieferten mir und den Kindern meiner Generation eben Anhaltspunkte über alternative Lebensweisen.

Für uns Kinder der 90er war der Fernseher wohl das bestimmende Bilderbuch. Wir sahen Knight Rider rauf und runter und wollten die Rächer der Entrechten sein. Ein Mann und sein Auto kämpfen gegen das Unrecht. Und die Welt in diesen Bildern war immer eine ungerechte Welt. Es gab zahlreiche Verbrecher und eben nur den einen Helden, der gegen alles Übel antrat. Wenn man Glück hatte, dann war der Verbrecher zur Stelle, hatte man Pech, dann lebte man abseits der Geschichte.

Platon hätte wohl dazu gesagt: „Alles, was dahin gehört, scheint mir ein Gift für den Verstand aber derjenigen Hörer zu sein, denen nicht die Kenntnis der wahren Natur dieser Dinge als Schutzmittel dagegen zu Gebote steht.“ (Politeia; 10. Buch)

Poesie ist immer Lüge. Die Lüge kann ganz simpel sein: Es gibt keinen Michael Knight. Diese Figur ist genauso erlogen wie sein sprechendes Auto K.I.T.T. Die Lüge kann aber auch komplizierter sein.

Denn die Dargestellte Wirklichkeit ist immer eine simulierte Wirklichkeit. Zwei Professoren des Annenberg-Instituts für Kommunikationsforschung an der Universität von Pennsylvania, Lary Gross und Georg Gerbner kamen in den 70er Jahren zu aufschlussreichen Untersuchungsergebnissen: Die Beschäftigung mit dem Fernsehen beeinflusst die Realitätswahrnehmung enorm. Gerbner und Gross verglichen starke mit schwachen TV-Konsumenten und stellten ihnen Fragen, die die Realität betrafen.

Die Versuchspersonen wurden etwa aufgefordert, ihre eigenen Chancen einzuschätzen, innerhalb einer bestimmten Woche das Opfer einer Gewalttat zu werden. Es standen ihnen die Multiple-Choice Antworten zur Verfügung: 50:50, 10:1 und 100:1. Die richtige Antwort wäre 100:1 gewesen. Die Dauerzuschauer lagen in ihrer Einschätzung weit an der faktischen Realität vorbei. Im Einklang mit der Realität standen dagegen die wenig Konsumenten.

Die Vorstellungen, die wir von der Welt haben, werden von unseren Eindrucken geprägt. Und wir können unsere Prägungen beeinflussen lassen, wenn wir uns bestimmten Bilderbüchern aussetzen.

Das modernste Bilderbuch heißt Instagram. Und die Konsumenten setzen sich mit einem Bilderbuchleben auseinander, das ihre Wirklichkeit genauso formt wie der Fernsehkonsum die Probanten der 70er Jahre.

„Mehr als die Menschen gilt die Wahrheit“, sagte Platon. Er sagt es, weil er etwas gegen die Kunst sagen möchte, während er gleichzeitig die Künstler wertschätzt. Er gesteht, Homer zu verehren und dass es ihm daher schwer fällt, Kritik an der Kunst zu üben. Heute würde er sagen: Ich mag Game of Thrones, aber die Wahrheit mag ich noch mehr. Kunst, so Platon ahmt die Erscheinungen nach, nicht die Wahrheit. Instagram ahmt Schönheit nach, nicht was wirklich schön ist.

Junge Generationen stehen immer vor der Schwierigkeit, dass sie das Gefühl haben, sie müssten sich entscheiden, was aus ihnen einmal werden könnte. Sie haben ihr Leben in ihren Händen. Sie können sich aussuchen, welche Art von Mensch sie sein wollen.

Tragischerweise hält die digitale Welt für sie einen Persönlichkeitskatalog bereit. Sie können sich aussuchen, ob sie Typ Abenteurer sein wollen. Und dann richten sie ihre Wohnung entsprechend ein, mit Landkarten und Globen, mit Safarimustern im Teppich und Elefantenfigürchen, während sie selbst nicht einmal die Hauptstädte von zehn Ländern dieser Erde ohne Google aufzusagen verstehen. Wollen sie Typ Hygge sein, eher gemütlich und nordisch kühl gewärmt?

Zum Glück gibt’s die Täuschung, schrieb der Poetry Slamer Bas Böttcher einmal. Man kreiert sich heutzutage sein eigenes Bilderbuch. Mit Selfies, also auf sich selbst konzentrierte Instant-Fotografien. Man speichert die Bilderbücher auch nicht mehr. Man lädt sie hoch. Und hat das Gefühl, man lädt sich selbst auf. In Wahrheit lädt man nicht die Wahrheit von sich auf, sondern nur die Erscheinung. Wir täuschen und täuschen und täuschen, tragischerweise nicht die andern, sondern uns selbst.

Wir waren einmal eine Menschheit, die einzelne Lebenskünstler hatte.

Dann wurden wir alle zu solchen.

Traditionellerweise wählt man in der Literatur das Bild der Maske, das man vor sich her trägt. Aber das war ja immer für unsere Psychologie bestimmt gewesen: Ein Mensch, der sein wahres Ich aus gesellschaftlichen Gründen hinter der Maske des Soll-so-seins versteckt. Unsere Digitalisierung hat uns eine weitere Maske hinzugefügt. Die Bilderbuchmaske. Und das Sprichwort: „Ein Leben wie im Bilderbuch“ wird kaum merklich verzerrt.

„Wie lebst du denn? Das sieht ja gar nicht mehr wie Bilderbuch aus. Wo in dieser Wohnung machst du denn dein Selfie? Wo stellst du dich hin, um dich mit dienem Background zu positionieren und zu kreieren? Wie passt dein individueller Geschmack zu deinem Image?

„Die Nachahmungskunst“, sagte Platon über die Dichtung, „ist also weit vom Wahren entfernt. Daher kommt es anscheinend auch, dass sie alles herstellen kann, weil sie jeden Gegenstand nur wenig erfasst, und zwar in einem Bild. So wird uns der Maler z.B. einen Schuster, einen Tischler und die anderen Handwerker malen, ohne von der Kunst irgendeines dieser Leute etwas zu verstehen. Gleichwohl wird er, wenn er ein guter Maler ist und einen Tischler gemalt hat, den er nun in gehöriger Entfernung vorzeigt, Kinder und Toren täuschen, sodass sie glauben, es sei ein wirklicher Tischler. (…) Die Nachahmungskunst ist also selbst unedel, verkehrt mit Unedlem und erzeugt Unedles.“

Der Papst Franziskus hatte dazu gesagt, dass unser wachsender Umgang mit sozialen Medien das Asoziale fördere. Er übersieht, meines Erachtens, den entscheidenden Zwischenschritt: Das Asoziale ist die Konsequenz daraus, dass wir das Bilderbuchleben perfektioniert haben und vor lauter Masken nicht mehr erkennen, dass unter der Maske der digitalen Perfektion eine Maske der Psychologie steckt, worunter die Maske des verloren gegangenen, hilflosen Ichs steckt, derjenige, der eigentlich nur irgend etwas sein wollte. In einer Welt der Bilder, in der eine verletzte Seele keinen Platz mehr hat.

Was sagt ihr dazu?