Nach Teil (1) und Teil (2) von Haerzenswort, geht es endlich hier weiter:
Christine sagte mir, dass ich mir nicht den Kopf zu zerbrechen bräuchte. Sie zeigte mir, um ihre Worte zu bestätigen, ein Bild auf ihrem Handy. Ein Comiczeichnung aus Amerika, meiner Meinung nach ganz offensichtlich von einer Frau gezeichnet, die Probleme damit hatte, zu sensibel zu sein. Der Spruch, den mir Cristine auch laut vorlas und sofort übersetzte, so als ob ich das nicht auch gekonnt hätte, lautete: „Manche Menschen sind dein Weg, andere dein Schicksal.“
Ich blinzelte sie verstört an.
„Was willst du mir damit sagen, Chrissie?“
„Dass es okay ist.“, und sie legte mir zum Trost die Hand auf die Schulter, was mich gemeinsam mit ihrem Blick, noch sprachloser machte.
Manche Menschen sind dein Weg, andere dein Schicksal. Das soll mich jetzt wohl über alles hinwegtrösten.
„Ich find das scheiße.“, sagte ich frei heraus. Und ja: es war ein Genuss, zu sehen, wie ihr tröstender, fürsorglicher Schwesternblick direkt vor meinen Augen in Scherben zerfiel und dahinter nichts wirklich erwähnenswertes sichtbar wurde.
„Soll das etwa heißen, dass es okay ist, benutzt zu werden? Sieh dir das Bild mal bitte dazu an. Da ist ein Typ, der eine Frau in einem Ruderboot wahrscheinlich über die halbe Welt rudert und am anderen Ufer angelangt, steigt sie aus und landet in den Armen eines anderen Mannes, der angeblich ihr Schicksal ist. Bullshit, Chrissie. Einfach nur Bullshit. Es ist nicht in Ordnung, so mit anderen Menschen umzugehen.“
„Aber es ist nun mal so, dass …“
„Wenn du noch an so was wie Schicksal glaubst, ist dir auch nicht mehr zu helfen. Was ist das überhaupt für eine Bilderserie?“, ich nahm ihr das Handy aus der Hand und scrollte weiter über ein paar Bilder. Die Reihe war übertitelt mit „Es gibt immer zwei Arten von Menschen.“, das war rein logisch schon totaler Schwachsinn. Aber bitte. Die Bilder waren tatsächlich recht niedlich. Man sah viele Herzen und viele Blumen und überall schimmerte die romantisierte Melancholie heraus, die in Wahrheit eine ernstzunehmende Seelenkrankheit sein mochte. „So ein Scheiß.“, sagte ich wieder.
Und sie knurrte: „Du bist ein typischer Mann.“
Ich tat so, als überhörte ich das, weil es nicht stimmte. Ich hatte durchaus einen Sinn für die Schönheit dieser Bilder, aber ich fand – bei allem therapeutischen oder biografischen Nutzen, den diese Bilderreihe haben mochte – den intellektuellen Wert und vor allem den argumentativen Wert weit fehl am Platz.
Ich kehrte wieder zu dem ersten Bild zurück mit dem verliebten und enttäuscht sitzen gelassenen Ruderer: „Meinetwegen darf die Frau in dieser Bilderreihe so denken, um sich ihr eigenes schlechtes Gewissen rückwirkend ruhig zu stellen, wenn es einen therapeutischen Zweck hat, bitteschön. Aber das ist doch keine Rechtfertigung, um Himmels Willen.“
„Jetzt beruhig dich doch mal!“
„Ich sehe es nicht ein, mich zu beruhigen, Chrissie. Und ganz davon abgesehen, bin ich ganz ruhig. Ich weiß nicht, was dagegen spricht, wenn Leute wie sie einfach akzeptieren, dass es überhaupt kein Schicksal gibt, sondern alles nur eine Frage von Zufällen und Entscheidungen ist.“
„Es tut mir Leid, wenn dich das hübsche Bildchen nicht beruhigt hat.“, versuchte sie es erneut und griff ins Leere, weil ich mich mit ihrem Handy ihrem ausgestreckten Arm entzog.
„Wir verlieben uns ständig, Chrissie. In jeden Menschen, der uns über den Weg läuft, können wir uns verlieben. Wir Menschen sind vielfältig und jeder einzelne ist interessant und hübsch und kann irgendetwas beeindruckend gut. Wenn du auf irgend eine andere Seite gehst, wirst du lesen können, dass jeder Mensch liebenswert ist … oh, sieh mal da, sogar die selbe Künstlerin. Hier: Jeder blüht auf seine eigene Weise, schreibt sie und malt dazu hübsche Blüten statt Köpfe und jeder hat ein hübsches Herz in der Brust, siehst du das, Chrissie? Und wo wir gerade dabei sind: es gibt mehr als nur zwei Arten von Menschen. Wenn überhaupt, sollte sie Alphaville zitieren: Some are the melody and some are the beat. Manche Menschen sind die Melodie und andere der Rhythmus. So ist das nämlich im Leben.“
„Und was davon ist Tara, Greg?“
Ich hasste es, wenn Christine mir so in die Flanke fuhr. Wie es sich für meine Schwester gehörte, kannte sie die Reizworte, mit denen man mich entweder zur Weißglut oder zum Abschalten bringen konnte. Interessanterweise kannte sie auch das eine Reizwort, bei dem alles in mir irgendwie im Chaos versank.
„Du lenkst vom Thema ab.“, sagte ich.
„Hör zu, vielleicht soll es einfach nicht sein, schon daran gedacht?“
„Sie hat einfach nur ein Date, ok? Nichts großes. Ein Freund. Sie geht nur mit diesem Typen da in eine Szenekneipe und sieht sich dort ein wenig um.“
„Es ist Samstagabend.“, sagte sie unnötigerweise und dann auch noch so, als ob das ein Argument für irgend etwas wäre.
„Und?“
„Samstags abends geht man auf echte Dates. Mit Typen, an denen man interessiert ist.“
„Ich hasse dich.“, sagte ich. „Um wieder auf deinen Comic da im Internet zurückzukommen, …“
„Wie oft bist du schon mit ihr ausgegangen, seit du festgestellt hast, dass du ihr gegenüber wohnst?“
„Wie oft bist du mit deinem Ole ausgegangen?“, konterte ich so schnell, dass ich sogar selbst überrascht war.
„Mit Ole war das anders.“, sagte sie selbstverständlich. Und wir wussten beide, dass das eine beschissene Antwort war.
„Mit Ole war es nichts anderes. Es kommt nämlich nicht auf die Quantität von Dates an, sondern auf die Qualität. Und meinetwegen kann Tara mit hundert Typen auf hundert Dates gehen. Sie kann sich mit den Typen links und rechts von einer wunderschönen Rose hinsetzen und sündhaft teuren Wein aus unhandlich bauchigen Gläsern trinken. Sie kann ins Steakhaus gehen, zum Chinesen, Griechen, Australier oder in eine Craftbierbrauerei. Aber ein einziges Date mit mir …“
„… und sie wird feststellen, dass manche Menschen der Weg sind und andere das Ziel, hab ich Recht?“
„Ach, halt die Schnauze.“
Ich zog jetzt mein Handy aus der Tasche und war enttäuscht, dass Tara nicht einmal eine SMS geschrieben hatte. Nichts. Nicht mal ein Foto auf Facebook oder Instagram hatte sie gepostet. Aber um mir nichts anmerken zu lassen, drehte ich Christine das Handy zu und sagte so triumphierend ich nur konnte: „Nix! Wenn es ach so toll ist, heute Abend, warum postet sie dann kein Bild?“
„Vielleicht kann der andere keine Lastwagenfahrer imitieren.“
Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen und dadurch einfallslos auszusehen, sagte ich: „Ich hasse dich, halt die Schnauze.“
„Sie ruft an.“, sagte sie.
„Wer?“
„Display.“
Ich drehte das Handy um und sah, dass Tara tatsächlich anrief. Vielleicht wollte sie abgeholt werden oder sich auskotzen über den dämlichen Typen, der nicht wusste, wie man ein Date richtig anging. Vielleicht wollte sie, dass ich sie vom Langweiler erlöste oder dem Aufschneider eine runterhaue, der die Finger nicht auf seiner Seite vom Tisch lassen konnte. Hastig ging ran:
„Hey, Tara. Dachte, du wärst auf deinem Date.“
„Hey Greg, ja bin ich. Lustig, dass du dich daran erinnerst. Wusste gar nicht, dass ich dir das erzählt habe.“
Hatte sie nicht. Aber unsere Wohnungstüren liegen nicht einfach nur gegenüber. Der Schallschutz ist nicht besonders gut und man kann tiefe, männliche Bassstimmen verdammt gut durch die Tür durch verstehen, wenn sie „Hi, bist du bereit für den Abend deines Lebens?“ mit prahlerischer Inbrunst tönen.
„Läufts gut?“, fragte ich.
„Spitze.“, sagte sie, was bestimmt gelogen war. Man konnte ja regelrecht hören, wie laut es in ihrer Szenekneipe war. Da konnte man sich ja gar nicht unterhalten. Jemand lachte laut und dröhnend im Hintergrund. Ich glaubte auch zu hören, dass irgendwo etwas kaputt ging, Glas oder Geschirr. Bestimmt ein Fenster. Hatte er sie in einen Saloon geführt? Prima Location um sich von der besten Seite zu zeigen.
Tara fragte auf einmal: „Wie hieß der Typ noch mal, den du mir letztens empfohlen hast?“
„Welcher Typ?“
„Na dieser Typ, der dieses Buch geschrieben hat.“
„Ein Autor?“, ich dachte nach. In meinem Kopf ratterte es. Wann hatten wir über Bücher geredet?
Dann beschrieb sie mir in zwei drei Sätzen die Handlung, die mir überhaupt nicht bekannt vorkam, bis es mir dämmerte.
„Das war kein Buch, das ich gelesen habe, Tara. Das war ein Interview.“, ich nannte ihr den Namen. Und sie rief:
„Dank dir. Ich wollte die Story gerade Lennart erzählen.“
„Heißt er so?“, fragte ich dämlich. Natürlich hieß er so. Man geht doch nicht auf ein Date und redet mit der Bedienung über die Bücher, die einem der gutaussehende Nachbar vor kurzem empfohlen hat.
Plötzlich flüsterte sie durchs Handy in mein Ohr: „Er ist Bodybuilder, Greg.“
„Lennart?“, fragte ich wie der letzte Idiot.
Meine Schwester hinter mir flüsterte so was wie: „Stell dir vor, ich glaube, er heißt Lennart.“ Ich schuschte sie.
„Er kommt zurück. Danke für die Info.“
Oh, kein Problem.
„Greg?“
„Ja?“
„Like?“, fragte sie. Ich antwortete wie immer: „Like“.
Dann legte sie auf und meine Schwester sah aus, als ob sie mich in den Arm nehmen wollte.
„Ach halt die Schnauze.“, sagte ich zu Christine.
„Ich halt lieber dich ein wenig, ok?“
Und gerade als ich mich in ihrer Umarmung anfing, wieder wie ihr kleiner Bruder zu fühlen, der sich im Schutz ihrer Arme vor der ganzen Welt mit seiner Traurigkeit verstecken konnte, sagte sie: „Lust, mit mir in eine Szenekneipe in der Stadt zu gehen?“
„Ach, halt die Schnauze. Halt einfach die Schnauze.“
„Ich weiß.“, sagte sie.
… Fortsetzung wird folgen.
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