Ruhrgebiet 2019

Das Ruhrmuseum in Essen behauptet, die Menschen im Ruhrpott haben sich immer mit dem Prädikat der Männlichkeit selbstinterpretiert. Hier sei das Malochen wesentlicher Bestandteil der Selbstinszenierung, der Selbsterfüllung, vielleicht sogar des ganzen Selbstes. Fußball, Mantas, Reihenhausromantik, Straßenkinder, Trinkhallen, Industriecharme, Ruß statt Rouge. Und alles läge zerbrochen und im Wandel einbegriffen. Der Mann ist deutschlandweit nicht mehr das, was er einmal war. Männlich nicht ...

Erdrutsch

Ich bin schon wieder in einen Erdrutsch geraten. So nenne ich bestimmte Augenblicke in meinem Leben, in denen mir alles irgendwie abhanden kommt. Und mit „alles“ meine ich nichts Materielles. Ich meine mich. Es begann damit, dass ein Internetunternehmen bei mir zu Hause Kabel neu verlegen musste. Rückblickend empfinde ich das als ziemlich metaphorisch. Dumm war nur, dass die Kabel hinter den Schränken meiner Bibliothek zu verlaufen hatten. Und so räumte ich alle Schränke an einem Tag aus, ...

Zeit

„Ok, jetzt im Ernst: woher nimmst du die Zeit zum Schreiben?“ „Ehrliche Antwort? Keinen Schimmer.“ „Da muss doch etwas drunter leiden. Deine Arbeit?“ „Nee, die läuft. Fällt mir nicht so schwer, Arbeit und Leidenschaft zu vereinbaren.“ „Dann die Familie!“ „Alles grüner Bereich.“ „Ich könnt das nicht.“ „Was? Arbeiten mit Leidenschaft?“ „Du liest auch immer so viel.“ „Das war jetzt ein Vorwurf, hab ich Recht?“ „Also mir ist das echte Leben wichtiger.“ „...“ „Echte ...

Wiesbaden: Die Bürgschaft – ein Essay

Das Leben ist doch voller Kuriositäten, nicht wahr? Gestern war man noch Humanist und heute ist man bettelarm. Gestern waren wir noch christlich-sozial und heute, ach heute geht es uns vor unseren Flachbildfernsehern doch ziemlich katastrophal. Man kann ja mal nachrechnen. In Wiesbaden rechnete man jüngst ja auch den Humanismus auf. 40.000 Euro kostet es, wenn man zwei Jahre lang ein anständiger Humanist war. Die Rechnung ist einfach und nicht nur schlüssig, am Ende wird es sogar flüssig sein. ...

Die postheroische Zeit (Essay)

  Im Radio wurde diskutiert. Und nichts lieber ist den Moderatoren in ihrer Diskussion, als wenn es um den Zustand im Land geht. Denn Zustände sind immer an bestimmten Ereignissen ablesbar, Ereignisse, die sie Symptome nennen und eifrigst interpretieren und von allen Seiten her auflösen, wie man auch einen Jahrhunderte alten Wald von allen Seiten her auflösen kann, um ihm schließlich auf den wertvollen und ach so schmutzigen Braunkohlegrund zu kommen. Man diskutierte in diesen Tagen viel ...

Die Axt

Ein einziges Wort kann der Keil sein, welches die Gesellschaft spaltet.

Im Kopf eines Menschen, der dieses Wort als Ideologie dort aber inthronisiert hat, kann es auch die Axt sein, die aus goldener Gegenwart düstere Scheite schlägt, um der Welt ein großes Feuer zu bereiten.

Auf ein Wort

Komm vorbei

Auf ein Wort

Das wir uns teilen

Worauf genug

Platz ist für zwei

Das von oben betrachtet

Anders wirkt, wenn

Es vor unseren Füßen liegt

Ein Wort wie ein Weg

Vom Vorbei wo wir stehn

Zum Jetztfängtesan.

Komm auf ein Wort

Darauf ist es nicht

So eng wie man meinen mag

Steht man davor und blickt auf.

Komm vorbei

Ich steh drauf

Und warte.

Erste Sätze

Ich liebe erste Sätze von Romanen. Aber das kann heute keiner mehr. Gute erste Sätze. Und überhaupt: Moby Dick. Anna Karenina (!), Die Verwandlung, ..., ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der erste Sätze auswendig kann. Dabei beginnen Stories mit ihnen. Sie ziehen dich wie einen Maelstrom in sie hinein. Wer will schon weiterlesen, wenn das erste Wort ein Name ist? Oder ein Dialog - ein Wort hinter einem Gänsefüßchen, ... So fangen Filme an. Nicht das Leben. Das Leben ...

Der Irrtum

Wir bilden uns ein, wir würden vor unseren Ängsten fliehen.

In Wahrheit gehen wir ihnen voraus ins Tal der Sicherheit und erlauben ihnen, es einzunehmen.

Wir bilden uns ein, wir würden uns unseren Ängsten stellen.

Tatsächlich stehen wir ihnen entgegen, um zu erkennen, dass es doch nicht mehr als Schwierigkeiten waren. Kleinwüchsige Hindernisse mit lächerlich groß geworfenen Schatten.

Lesen, Schreiben, Denken, Weltverstehen

Lesen- und Schreibenlernen bedeutet ein aktives Verändern des Denkens und betrifft die Entwicklung der Person insgesamt. Kinder sind neugierig und sie sind Entdecker. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Wissenschaftler. Sie schaffen sich ihr eigenes Wissen. Am Anfang vertrauen sie auf uns Erwachsene und wir bieten ihnen Lernumgebungen. So funktioniert das grundsätzlich. Als ich in einem Haus wohnte, worin es viele Treppen gab, war meine Tochter die erste in der ganzen Kindergartengruppe, die ...