Sich als Schachfigur fühlen – Essay

Im Sterbebett, dort oben in dem Klinikum, las Franz Kafka in den letzten Tagen „Entweder Oder“ von Sören Kierkegaard. Das ist aus seinen Tagebuchaufzeichnungen zu entnehmen. Also nehme ich mir den Kierkegaard vor. Und ich versuche ihn zu lesen, wie ihn der sterbende Kafka gelesen haben mag. Und das Entweder Oder ist ein absoluter Wirbelsturm an Ideen und Gedanken. Er ist sperrig auf den ersten Blick, der ein philosophisches Werk vermutet, dann aber enttäuscht wird. Entweder Oder ist erst hinter ...

Zynismus – Essay

Der Kyniker Diogenes Laertius sagte einmal: „Ein reicher Mann ohne Bildung ist ein Schaf mit goldenem Vließ.“ Oh, ich liebe die Zyniker. Der Kynismus ist genau meine Sache. Der Begründer dieser Schule ist nicht, wie man landläufig vielleicht vermuten mag, dieser ältere Mann, der in einem Fass lebte, sondern eigentlich gilt Antisthenes von Athen als erster Kyniker. Und dieser wiederum war einer der Fans des Sokrates. Erst sein Schüler war der berühmte Diogenes und erst dem gelang es a) ...

Das Unbequeme – Essay

Die unbequemsten Menschen sind die, welche zum Zweck zu schlecht und zu[m] Mittel zu dumm sind. (Sophie Mereau-Brentano)   Meiner Erfahrung nach ist die Unterscheidung zwischen Zweck und Mittel nicht mehr so leicht zu verstehen. Man muss es mit dem Sprichwort erklären, eine Sache geschehe als „Mittel zum Zweck“. Ein Zweck ist ein Ziel. Und wenn Kant sagt, man darf nie einen Menschen als Mittel verwenden, stets immer nur als Zweck, dann bedeutet das: Jedes Handeln soll auf das Ziel „Mensch“ ...

Die Wissenskrise – Essay

Rein deskriptiv: die Flut an Wissen macht nicht klüger sondern dümmer. Die Zensur macht stiller, aber zorniger. So war es früher. Heute entsteht eine durch Algorithmen geschaffene Äquivalenz zur Zensur. Die Masseninformation unterdrückt die wahrhafte Einzelinformation. Das überfordert und macht stumm. Der Zorn, der entsteht wird durch die Algorithmitisierung der Informationsportale exponenziell gesteigert: Die Presse generiert längst keine Informationsblätter mehr, sie generiert Leser, ...

Der reine Vernichter – Essay

Die Destruktion hat Konjunktur. Wir rutschen in die Zeit der Destruktion hinein, sind vielleicht sogar schon in ihr. Wir erkennen in der Destruktion das Konstruktive. Und ein neuer Protagonist hat die Weltbühne betreten: der Vernichter des Vernichtens Willen. Es gab vorher schon Vernichter. Solche, die die Welt abreißen wollten, niederbrennen bis auf die Grundfesten, um eine neue Welt darauf zu erbauen. Aber diese Art der Vernichter, die man visionäre Vernichter nennen mag, sind inzwischen selbst ...

Flüssige Identitäten – Essay

Ich habe dieses Buch von Konfuzius gefunden. Viele kleine Aphorismen, die einem zu Denken geben sollen. Und da heißt es an einer Stelle: „Der Meister sagte: ‚Es kommt vor, dass der Halm sprießt, und die Pflanze dennoch nicht blüht. Es kommt vor, dass sie blüht und dann doch keine Frucht ansetzt.’“ (Buch IX: Tze Han) Mehr nicht. Und ich frage mich, ob es da um Resignation geht oder um eine einfache Beschreibung. Natürlich wird nicht von Pflanzen geredet, sondern von Menschen. Das ist ...

Heldentypen – Essay

Die Formel der Antike lautet: Er weiß es nicht, obwohl er es tut. Die Formel der Moderne, siehe Hamlet, lautet: Er weiß es, deswegen kann er es nicht tun. Und dann gerieten wir in die Spätmoderne, und da weiß er genau, was er tut und tut es trotzdem. Und dieses Bild der Geschichte und dieses Bild eines Helden sind wir müde geworden. Für die Darstellung dieses Helden gibt es ja nur den Weg des Zynismus und den eines tragischen Bewusstseins. Zynismus macht nur Zynikern spaß, also Hunden. ...

Flaschenpost

Poeten sprechen über Schwarze Sonnen Wie Astrologen über Schwarze Löcher. Das sollte man Demokrit einmal sagen, dass man im All Nichtse vermutet Dass ein Nichts Kraft haben kann. Poeten sprechen über teuflische Götter Wie Neurologen über Willensfreiheit. Auch das sollte man mit einer Flaschenpost Durch die Zeit zurück schicken: Dass ein Wissenschaftler diesen Nerv haben kann ... Die Intuition zu leugnen. Poeten sprechen über den Stillstand der Zeit Wie Heraklit einst über Flüsse. Und ...

Vera Icon – Essay

Das Vera Icon ist das Nonplusultra des Bildes. Es zeigt wie magisch das Bild sein kann. Es fängt auf, löst, ohne die Realität zu beschädigen, einen wesentlichen Ausschnitt aus der Realität und fängt diese ein, erhält sie, formt sie zu einem über die Zeit hinausdauernden Objekt. Wir tragen die Bilder mit uns herum, über unseren Tod hinaus und transportieren das Leben der Gegenwart so wie mit einer Flaschenpost durch die Zeit in die Zukunft. ...