Alte Würde rostet nicht

Die beiden Mädchen setzten sich als die Bahn losfuhr ganz nach hinten. Aber nicht auf die letzte Sitzreihe der Bahn, sondern darüber, auf diese kleine, gelbweisse Ablage, die Rücken gegen die weitflächige Rückscheibe gelehnt. Die Strassenbahn ruckte auf die Kurve zu und die Ausfahrt aus dem Haltestellenschacht. Lustig blinzelten sie mir zu, die eine strich sich zittrig durch das schüttre, silbrige Haar. Die andre schickte einen luftigen Kuss von der spinnenbeindünnen Hand, der uns am Bahnsteig ...

Der reine Vernichter – Essay

Die Destruktion hat Konjunktur. Wir rutschen in die Zeit der Destruktion hinein, sind vielleicht sogar schon in ihr. Wir erkennen in der Destruktion das Konstruktive. Und ein neuer Protagonist hat die Weltbühne betreten: der Vernichter des Vernichtens Willen. Es gab vorher schon Vernichter. Solche, die die Welt abreißen wollten, niederbrennen bis auf die Grundfesten, um eine neue Welt darauf zu erbauen. Aber diese Art der Vernichter, die man visionäre Vernichter nennen mag, sind inzwischen selbst ...

Flüssige Identitäten – Essay

Ich habe dieses Buch von Konfuzius gefunden. Viele kleine Aphorismen, die einem zu Denken geben sollen. Und da heißt es an einer Stelle: „Der Meister sagte: ‚Es kommt vor, dass der Halm sprießt, und die Pflanze dennoch nicht blüht. Es kommt vor, dass sie blüht und dann doch keine Frucht ansetzt.’“ (Buch IX: Tze Han) Mehr nicht. Und ich frage mich, ob es da um Resignation geht oder um eine einfache Beschreibung. Natürlich wird nicht von Pflanzen geredet, sondern von Menschen. Das ist ...

Heldentypen – Essay

Die Formel der Antike lautet: Er weiß es nicht, obwohl er es tut. Die Formel der Moderne, siehe Hamlet, lautet: Er weiß es, deswegen kann er es nicht tun. Und dann gerieten wir in die Spätmoderne, und da weiß er genau, was er tut und tut es trotzdem. Und dieses Bild der Geschichte und dieses Bild eines Helden sind wir müde geworden. Für die Darstellung dieses Helden gibt es ja nur den Weg des Zynismus und den eines tragischen Bewusstseins. Zynismus macht nur Zynikern spaß, also Hunden. ...

Der Zwischenfall im Wald (9)

Ich hab geträumt, dass sie mir auflauern und mich fertig machen wollen. Schweine, gottverdammte Schweine. Und du hast Küken draus gemacht in deiner Geschichte. Die sind nur halb so gefährlich. Die kommen nicht zurück und jagen dich durch deine gottverdammten Träume. Wenn du einmal ein Schwein so schreien gehört hast wie ich. Das klingt wie ein kleines Kind. Wie ein echter Mensch. Das geht dir in die Knochen und so. ...

Der Zwischenfall im Wald (7)

Wir hatten damals wirklich verdammt gut zusammengepasst. Ja, es mochte sein, dass ich verblendet war, weil ich über sie und unsere Trennung noch nicht richtig hinweg gekommen war. Vielleicht war ich auch einfach naiv, weil ich außer Silvy keine andere Freundin gehabt hatte. In solchen Fällen ist man garantiert extrem naiv. Wenn du keine Erfahrungen hast und keine Alternativen kennst, ist es doch wohl klar, dass das eine Mädchen dann die berühmte eine sein musste. Aber nein, ganz im Ernst: Es ...

Der Zwischenfall im Wald (6)

Wie ein Schock läuft? Ganz anders als man so denkt. In dem eigentlichen Augenblick, den „Auslöser“, kommt dir alles lupenrein und klar vor. Eigentlich läuft alles viel zu schnell vor deinen Augen ab. Du kommst gar nicht mehr hinterher damit, deine ganzen Eindrücke im selben Augenblick zu verstehen. Alles stürzt auf dich ein. Die fliegenden Kastanien. Die Treffer. Das Ausweichen, der Lauf um die Kurve. Der Anblick von Toni. Der schwere Ast, den sie über den Kopf hält. Wie er geschleudert ...