Die Linde von Kehl (4/4)

  „Stört es dich, dass ich hier bin, oder dass ich dir auf den Fußboden blute?“, fragte sie. Es klang sanft, fast müde. Sie stand hinter mir und sie legte mir ihre Hände auf die Schultern. Sie begann zu massieren und flüsterte mehr zu sich selbst als zu mir: „Wie verspannt.“ Ich konnte durch den Druck ihrer knetenden Hände an meinem Rücken spüren, dass sie zitterte. Und fast automatisch fragte ich: „Ist dir kalt?“ Sie seufzte. Als ich mich umdrehte, lag sie bereits in ...

Die Linde von Kehl (3/4)

Spirenzien. So sagt man hier, wenn man gewissen Spinnereien folgt und damit Ärger verursacht: Man mache Spirenzien. Es war schwer, meine Nervosität zu erklären. Mein Vater meinte, ich sei dünnhäutig. Die Großstadt täte mir nicht gut. Und er erzählte den Witz von dem Mann, der an einer Autobahn wohne und immer mit „NeeeeinnnnnnNeeeeeinnn“ antwortete, was sich so anhörte, wie vorbeirasende Autos. So wie man im Hellen nicht depressiv werden könne, so könne man in einer Stadt nicht gesund ...

Die Linde von Kehl (2/4)

Die Schwalbe aus Papier bekam einen Ehrenplatz über meinem Schreibtisch und die Geister der Erinnerung riefen nicht nach mir. Meine neue Einrichtung wurde, wenn man von meinem Vater absah, von vielen sehr positiv aufgenommen. Ich lag voll im Trend damit, das Alte mit dem Neuen zu verbinden. Es gab in der Stadt ganze Geschäftszweige, die ihre Nische darin fanden, einen modernen Antiquariatismus zu definieren. Das Alte, selbst Designs und Stücke, die bislang als Fehltritte der Historie des Geschmacks ...

Die Linde von Kehl (1/4)

Meine Großmutter nannte es „den Sinn für eine Sache verlieren“. Sie sagte, dass es so eben mit der Zeit sei. In der Zeit verlieren sich die Dinge. Erinnerungen würden verloren gehen und eine Vorstellung davon, was einmal wichtig gewesen ist, würde sich auflösen. Das, so sagte sie, sei ganz normal. Was aber nicht normal sei, dass die Menschen inzwischen den Sinn verlieren würden. Früher hätten die Menschen wenigstens gespürt, wenn sie vor etwas Bedeutungsvollem stehen. Heute könnte man ...

Der weinende Junge (2/2)

Und damit, schloss sie den ersten Teil ihrer Erzählung, hatte alles dann begonnen: Es dauerte nicht lange, bis man mich, dümmer noch, das Bild für den Brand verantwortlich machte. Über die lokale Presse und dank eines schlecht recherchierten Artikels im Saarsteinboten von einer Reporterin namens Su Höpfner verbreitete sich das Gerücht, das einzige, was bei diesem Brand nicht zerstört worden sei, wäre das Gemälde des weinenden Jungen. Von da aus war es nur noch ein geringer Schritt zu der ...

Der weinende Junge (1/2)

Southern trees bear strange fruit Blood on the leaves and Blood at the root (Billie Holiday) Seit Caroline Berger verschwunden ist, gibt es für mich keinen richtigen Schlaf mehr. Ich hatte die letzten Tage mit ihr verbracht und ich hatte das Schreien und das Weinen gehört, als die Katastrophe über sie gekommen war. Obwohl die Polizei überall gesucht hatte und Carolines Familie sogar über die Sozialen Netzwerke des Internets Bilder von ihr in die Welt verteilt hatten, konnte sie nicht gefunden ...