Kinderfänger (5)

Es wird Zeit, dass die Geschichte um Lev und den Kinderfänger an Fahrt aufnimmt und wir uns dem Höhepunkt nähern. Zeit für den Showdown!

Den Anfang verpasst?
Kein Problem: Hier geht es zum ersten Teil.
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Hier geht es zum dritten Teil.
Hier geht es zum vierten Teil.

 

Die Fremde machte keine Anstalten, sich zu verbergen. Sie gab sich keine Mühe, die Tür leise zuzuschlagen; keine Mühe, die Schritte zu dämpfen oder den Weg zur Eingangstür des Verlagsgebäudes nur in den schwarzen Schlagschatten zu finden. Lev natürlich schon. Er schob sich auf Knie vor und es gelang ihm, vollkommen geräuschlos zu bleiben.

Er sah, wie sie das Türschloss aufbrach. Und als sie im Gebäude verschwunden war, zählte er bis zehn, dann stand er auf und prüfte, ob sie den Wagen abgeschlossen hatte.

Lev hatte Glück. Nicht einmal das Licht im Innern ging an. Er setzte sich auf den Fahrersitz und nahm sich die Zeit, in ihrem Notizbuch zu blättern.

„Komm schon.“, flüsterte er. Er hoffte natürlich darauf, Beweise finden zu können. Und dann war er trotzdem vor Schock erstarrt, als er sie fand. Zwei Drittel des Buches waren vollgeschrieben, bemalt, beklebt mit Zeitungsberichten. Das meiste davon überflog Lev einfach nur. Auf den letzten Seiten dann fand er die Bilder. Es waren Kinderfotos. Und das Foto von Tom brachte Lev zum Zittern.

Es war ein leicht verwackeltes Bild, das so aussah, als ob es nebenbei gemacht worden war. Tom, der mit seinem Ruckack das Schulgelände verließ, sich mit einer Hand gerade eine Haarsträhne aus der Stirn wischte. Etwas unscharf geraten. Aber scharf genug, um ihn erkennen zu können.

Zitternd beugte sich Lev nach hinten und untersuchte die Rückbank.

Er fand ein paar Tüten mit Kleidern, eine Fototasche, in der zwar ein paar Objektive lagen und ein Blitzlicht aber kein Fotoapparat. In der Tasche an der Rückseite des Beifahrersitzes fand er Gaffertape, Kabelbinder, Messer und ein dünner Packen weiterer Notizbücher.

Hastig zog er sie vor, öffnete die Schnur, die sie miteinander verband und dann blätterten sich ihm Kinderfotos entgegen.

Wieviele waren es? Hundert?

Lev hatte das Gefühl für Relationen verloren. Er konnte nicht einmal abschätzen, wie viel Zeit jetzt schon vergangen war. Alles drehte sich vor seinen Augen. Er stand in der Mitte eines Haufens von Indizien, die allesamt unfassbar eindeutig waren.

Hastig stopfte er alles wieder dahin zurück, wo er es gefunden hatte.

Alles bis auf Toms Foto. Das steckte er sich selbst in die Tasche.

Das einzige, was er nicht gefunden hatte, war ein Hinweis darauf, wo die Kinder waren.

Bevor er ihr ins Gebäude folgen wollte, gab es noch eine Sache, die er einfach überprüfen musste, weil es viel zu naheliegend war.

Die Finger waren ihm eiskalt geworden. Sein Körper fühlte sich nicht mehr so an, als ob es sein eigener wäre. Es war, als steuere er seine Bewegungen wie aus weiter, weiter Ferne. Er dachte daran, dass er den Kofferraum öffnen wollte und er stellte sich vor, wie im Kofferraum vier oder fünf ineinander verschränkt liegende Kinderleichen lagen. Dabei sah er zu, wie seine zitternden, blaublassen Finger den Kofferraum entriegelten und die Klappe wie von selbst aufsprang.

Das Bild der toten Kinder im Kofferraum wirkte so lebendig, dass er viel zu laut nach Luft schnappte, als er sah, was tatsächlich darin war. Nämlich nichts. Nur ein alter Lumpen, ein Wagenheber und ein paar Bücher. Aber das alles wirkte viel zu mickrig und gering, die Leere, die die paar Gegenstände umgab viel zu wuchtig und massiv.

Jetzt erst bemerkte Lev, dass ihm Tränen in den Augen standen und ihm die Kehle ausgetrocknet war.

Erschöpft setzte er sich kurz auf den Rand des geöffneten Kofferraums.

„Verdammter Mist.“, stotterte er. Durch bloßes Starren versuchte er das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Vor allem das Zittern seiner Hände war furchtbar.

Er schloss die Augen. Zählte langsam von zehn an rückwärts.

Konzentrier dich, ermahnte er sich. Du hast sie gefunden, sie ist die Kinderfängerin. Wie auch immer sie es geschafft hatte, als Fremde mit diesem auffälligen Sportwagen ungesehen sich durchs Dorf zu bewegen, die Kinder auszuspionieren und sie schließlich zu fangen. Das Wie, das spielte keine Rolle. Was eine Rolle spielte, war das Dass.

„Sie ist es wirklich.“, hörte er sich sagen.

Und es fühlte sich so an, als ob auf einen Schlag in einer großen Maschine alle Zahnräder schlagartig ineinander griffen. Alles passte auf einmal zusammen.

Nichts machte Lev mehr Angst als die ultimative Bestätigung. Denn diese Bestätigung war nichts anderes als ein riesengroßer Pfeil, der auf das Kampfmesser deutete.

Auf einmal spürte Lev, wie schwer sich dieses Messer anfühlen konnte.

„Tom.“, flüsterte Lev in die Einsamkeit hinein. „Was jetzt? Was machen wir jetzt?“

Wahrscheinlich war die richtige und naheliegende Antwort, Onkel Vic zu rufen. Der gute, fleißige Onkel bei der Polizei, der ihm heute Mittag schon gesagt hatte, dass er aussteigen sollte. Aber Lev war sitzen geblieben und hatte noch eine Weile weiter das hilflose Opfer gespielt. Er hatte die dunkle Zone um sich enger geschnürt.

Als er dem Weg folgte, den die Fremde vorhin gegangen war, fühlte es sich so an wie damals, als er zum ersten Mal mit dem Rauchen begonnen hatte. Er hatte es nur getan, weil seine Mutter wieder auf einem Familienfest damit geprahlt hatte, dass ihr Sohn ja auf gar keinen Fall rauchen würde. Und Onkel Vic hatte gesagt, dass Lev ein vernünftiger Junge sei. Ein guter, vernünftiger Junge.

Einer, der aussteigt, wenn man es ihm sagt.

Einer, der von der cleveren Sorte ist.

Er schob lautlos die aufgebrochene Tür auf und dachte, dass das nicht so viel anders war, als das erste Mal eine Zigarettenpackung zu öffnen.

„Doch, Lev, es ist etwas anderes“, hörte er Tom wie aus weiter Ferne sagen.

„Beides bringt mich um, oder etwa nicht?“, erwiderte Lev.

Die Stimme schwieg zum Glück. Denn jetzt musste sich der Junge konzentrieren. Er musste auf jedes Geräusch achten, auf jede Bewegung in den Schatten dieser Büroräume. Ergebnislos durchsuchte er die ersten Stockwerke. Da die meisten Türen abgeschlossen und nicht aufgebrochen waren, konnte er viel Zeit sparen. Am Ende blieb nur das Treppenhaus. Das Öffnen der Tür brachte automatisch durch einen Lichtsensor die komplette Beleuchtung in Gang. Überall flackerten Neonröhren, es summte und knisterte zwischen den Stockwerken.

Aber mehr nicht. Er hörte keine hastigen Schritte, keine Stimme, die durch das Treppenhaus rief, wer da wäre.

Es ging nur ein Stockwerk nach oben. Als Lev die nächste Tür erreichte, wartete er so lange, bis das Licht im Treppenhaus durch einen Zeitschalter wieder ausging. Wenn man sich nur langsam genug bewegte und so spärlich als möglich, konnte er den Lichtsensor vielleicht überlisten.

Ja, tatsächlich. Er öffnete die Tür Millimeter für Millimeter und die Dunkelheit blieb. Er zwängte sich durch den Türspalt hindurch und befand sich im Druckerraum.

Die riesigen Maschinen standen alle still.

Es war ein paar Jahre her, da hatte ihn eine Schulführung mal hergebracht. Er erinnerte sich an die rasende Geschwindigkeit, mit der ganze Bänder an Zeitungen durch die Luft geschleudert wurden. Die Luft schmeckte selbst bei ausgeschalteten Maschinen nach Druckerschwärze und staubigem Papier. Direkt zu seiner Linken standen die gigantischen Papierrollen, über die Tom gewitzelt hatte: „Toilettenpapier für Riesenärsche!“

Damals hatte die ganze Klasse gelacht. Aber als Levs Blick sie in der Dunkelheit streifte, lief es ihm nur kalt über den Rücken.

Denn hinter den Rollen kamen die Abwickelmaschinen, die das Papier der Rollen regelrecht absaugten und dann das schmale Förderband, auf dem die Fremde stand. Sie fotografierte etwas am anderen Ende des Raumes.

Dann ließ sie die Kamera ganz langsam sinken und ging über das Förderband aus Levs Sichtfeld.

In der Finsternis und zwischen all diesen Maschinen sah die Kinderfängerin aus wie ein Raubtier, das sich als Mensch getarnt hatte. Sie ging aufrecht. Aber ihre Bewegungen waren fließend, anmutig und doch angespannt und wie zu einem jederzeit startenden Angriff bereit.

Er hielt Abstand zu ihr und versuchte gleichzeitig, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie ging zu einer großen Fensterfront. Der obere Teil war halbrund. Wie bei einem Kirchenfester war im oberen Teil ein Bild eingelassen, aber nur in dunklen Tönen, die kaum Licht durchließen. Die Fremde ging in die Knie, um sich den Schatten des Fensterbildes auf dem Boden genauer anzusehen.

Lev erkannte in dem Bild bei diesen Lichtverhältnissen mit Mühe einen hässlichen Vogel, der auf etwas Unförmigem saß. Im Schnabel schien er etwas zu halten. Vielleicht einen Ast. Die Fremde jedenfalls schien mehr zu erkennen, denn sie gab einen leisen Fluch von sich und zog jetzt ihre Waffe hervor. Dann stand sie auf und sah sich um.

„Ok! Rauskommen!“, rief sie durch die Halle. Ihre Stimme dröhnte durch Levs Brust hindurch. „Ich weiß, dass ich nicht alleine bin. Ich mach den Job schon zu lange, wie du weißt. Also spar uns beide die Zeit und verarsch mich nicht.“

Lev rührte sich nicht. Er drückte sich sogar noch tiefer in den Schatten hinein und lugte zwischen zwei schweren Maschinenkolben hindurch zu ihr.

„Du glaubst, dass du im Vorteil bist, richtig? Weil du mich siehst aber ich dich nicht. Aber du hast auch geglaubt, dass ich noch nicht mal weiß, dass du hier bist. Also lass es. Komm raus und wir … reden mit einander.“

Levs Gedanken rasten. Er dachte, dass ihn das Licht im Treppenhaus wohl doch irgendwie verraten haben musste. Gerade wollte er aufstehen, als er eine andere Stimme hörte:

„Mir fällt nichts ein, was ich mit dir reden sollte. Wenn überhaupt, willst du Sachen von mir wissen.“

Die Stimme kam wie von überall. Sie war viel schlimmer als die der Fremden, viel eindringlicher und gefährlicher.

Lev hätte sich am liebsten umgeschaut, konnte aber den Blick nicht von der Fremden lassen. Sie drehte sich in die Richtung, aus der sie die Stimme vermutete und richtete die Waffe ins Dunkle der Nacht.

„Noch nicht einmal, wer ich bin?“

„Nein. Nicht wirklich. Spielt keine Rolle.“

Sie fuhr herum und starrte jetzt in Levs Richtung. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Die Stimme hatte diesmal tatsächlich so geklungen, als ob sie ganz in seiner Nähe wäre

„Ich weiß, was du bist.“, sagte die Stimme.

„Dann ist ja gut.“, antwortete die Fremde. Sie bewegte sich seitlich und verschwand hinter einer Papierrolle. Das letzte, was Lev von ihr hörte: „Ich hab dir auch genug Spuren hinterlassen.“

Von jetzt an waren nur noch die kratzenden Geräusche von Schritten zu hören. Die Panik ballte sich in Levs Brustkorb wie ein Sturm zusammen. Er wagte es nicht mehr, sich zu bewegen. Irgendwo schlichen die beiden Fremden durch die Dunkelheit herum, lauerten aufeinander und mindestens einer von den beiden trug eine Handfeuerwaffe. Jetzt war das Bild des Raubtiers noch präsenter. Zwei Raubtiere also, zwei, die sich umeinander herum bewegten, die sich Fallen stellten und jederzeit auf einander prallen konnten. Und während sie um einander kreisten, saß Lev als zitternder Dritter in der Mitte. Er war sich überhaupt nicht sicher, ob einer von den beiden von ihm wusste. Er hatte keinen Plan mehr, keine Einschätzung der Lage. Nur diese große, finstere Fabrikhalle, deren Maschinen alles zu einem gigantischen Labyrinth formten.

Dicke Schweißtropfen rannen ihm aus dem Haaransatz ins Genick. Der Mund war so trocken wie noch nie in seinem Leben.

Auf einmal hörte er direkt über sich ein schleifendes Geräusch, so als ob Stoff beim Gehen aneinander reiben würde. Er sah hoch und erkannte über sich auf einer Maschine einen schwarzen Schatten auftauchen, der definitiv nicht die Fremde war. Lev hielt die Luft an und seine Finger umschlossen den Messergriff noch fester.

Der Atem des Schattens wurde zischend hervorgestoßen. Natürlich war es nur eine Einbildung, aber Lev glaubte zu sehen, dass der Atem aus der dunklen Fläche des Schattens hervorquoll und wie eine giftige Wolke sich zu ihm herabsenkte. Er glaubte zu hören, dass der Schatten nach seinem Geruch suchte. Dass es ihn wittern wollte.

Der Schatten senkte sich, kauerte sich auf der Maschine direkt über Levs Kopf zusammen. Eine Hand griff nach unten und hielt sich an dem Rand der Maschine fest. Die Finger griffen nach einem Schubfach, langten hinein und zogen vollkommen lautlos eine lederne, zusammengerollte Tasche hervor.

Lev wagte es, den Kopf ein wenig zu drehen. Nur eine winzige Bewegung des Schattens war es, die genügte. Es rutschte in einen schwachen Lichtstreifen hinein und Lev konnte erkennen, dass die Hand einem Kind gehören musste.

Tom?, schoss es ihm durch den Kopf. Der Anblick der Hand löste eine gewagte Idee in ihm aus, eine, die so unglaublich und fantastisch war, dass …

Der nächste Sekundenbruchteil wurde von einem Schuss zersprengt. Lev zuckte zusammen, brachte es aber irgendwie fertig, trotz Schrecken keinen Ton von sich zu geben. Die Kugel traf ganz in ihrer Nähe ein und pfiff beim Aufprall auf das Metall.

Der Schatten über ihm war sofort verschwunden. Er hörte wie das Kind von der Maschine auf die andere Seite absprang und hastig davon stürzte.

„Ich hab dich verfehlt!“, rief die Fremde. „Tut mir Leid. Ich verspreche dir, das war keine Absicht.“

Im nächsten Moment stürzte auch sie aus einer undurchsichtigen Nische hervor und stand keine zehn Schritt von Lev entfernt. Sie blickte in seine Richtung, aber über ihn hinweg. Für einen Moment war er sich nicht sicher, ob sie ihn gesehen hatte oder nicht, aber dann rannte sie auf ihn zu, blieb keinen Meter von ihm entfernt und drehte sich mit der Waffe im Anschlag zur Seite. Ihre Sinne waren eindeutig angespannt. Sie lauerte auf alles, auf jede Bewegung und auf jedes Geräusch. Aber die zusammengekauerte Gestalt von Lev hatte sie noch nicht gesehen. Sicher, sie würde ihn sehen, sobald er sich auch nur einen Millimeter bewegen würde, sobald er es wagen würde, die Luft nicht mehr anzuhalten, würde sie ihn wahrnehmen. Sie würde ihn wittern und ihn ohne mit der Wimper zu zucken vernichten.

Die Augen schmerzten, weil er sie die ganze Zeit in stiller Panik aufgerissen gehalten hatte. Die Lunge brannte, weil er seit wie lange nicht mehr geatmet hatte? Die ersten Muskeln begannen in den Oberschenkeln zu zucken.

Die Fremde ging wieder seitlich, drehte sich leicht. Sie wandte Lev den Rücken zu, ging aber weiterhin auf ihn zu. Noch einen Schritt und sie würde gegen ihn stoßen.

„Es ist alles ganz einfach!“, hörte er auf einmal Toms Stimme in seinem Kopf. „Nicht wahr?“

„Denkst du, wir haben eine Chance?“, das war das letzte, was er zu Tom gesagt hatte. Über Handy. Und Tom hatte gesagt, dass er sich auf den Weg zu Lev machen würde. Und dass es da einiges gab, was man noch zu besprechen hatte.

„Wir haben eine Chance.“, Lev war sich sicher, dass Tom ihm genau das gesagt hätte, wenn er je bei ihm angekommen wäre. Wenn er nicht unterwegs verschwunden wäre. Auf dem Weg durch ein Dorf, in dem immer mehr Kinder verschwanden. Ein Weg von 10 Minuten.

„Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt in deine Richtung gegangen ist, Lev.“, hatte Toms Bruder ihm gesagt. „Ich meine, wenn du mich gefragt hättest, ohne die Geschichte und so. Wenn ich es einfach hätte sagen sollen, ich hätte geschworen, Tom ist rausgegangen und nicht nach links zu dir, sondern nach rechts Richtung Industriegebiet. Keine Ahnung. Ich hab noch gedacht: ‚Wo will der hin?’ Aber vielleicht wollte er nur kurz was überprüfen oder holen oder vielleicht ist er auch nur hinters Haus und hat sein Rad von dort genommen oder so.“

„Vielleicht ist er auch ins Industriegebiet um einer Spur nachzugehen.“

Oder einen Köder zu legen.

Die Fremde stand genau vor Lev. Es war, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. Sie rief: „Du hat keine Chance. Das weißt du, oder?“

Und es war das ‚Chance’, das allerletzte Wort, das er zu Tom gesagt hatte. Dieses Wort war wie der Startschuss.

Lev sprang aus der Kauerstellung. Er stieß mit dem gekrümmten Rücken gegen eine scharfe Kante über ihm. Er ignorierte den gleißenden Schmerz, den er nur als gerecht empfand. Der Rücken der Kinderfängerin musste viel schlimmer schmerzen. Durch ihren Rücken hindurch stieß Lev nämlich beim Aufspringen die Klinge des Messers. Es ging viel leichter als er gedacht hatte und es fühlte sich viel dumpfer und unheimlicher an. Es war, als ob da keine Frau vor ihm stand sondern ein großer Klumpen Fleisch. Es war, als ob das Messer nur einfach einen Körper zerschnitt und nicht in ein Menschenleben hineinfuhr.

Lev floss warmes Blut über das Messer in den Jackenärmel hinein. Warmes Blut und der heiße, zischende Atem, den sie mit einem Unterton von Überraschung aus ihrem Mund entließ.

Sie sackte in die Knie, sodass sie nur noch wie eine Sackpuppe an dem Messer und damit an Levs Griff hing. Er zog sie wie selbstverständlich zu sich herunter, sie rutschte ihm regelrecht entgegen.

Und dann saßen sie auf einmal beide in der Nische, in die er sich die ganze Zeit gedrückt hatte. Und Lev hielt die Kinderfängerin in seinem Schoß.

Sie drehte den Kopf und mit zitternden Lippen, die vor Levs Augen so blass und bleich wurden, als ob sie vor hätten unsichtbar zu werden, flüsterte sie:

„Was tust du hier?“

Lev wollte etwas antworten. Er wollte sagen, dass er der Kinderfängerin das Handwerk legte.

Aber bevor er antworten konnte, hörte er die Stimme des Schattens von nicht allzu weit weg:

„Du wolltest mich nicht treffen! Wenn du mich triffst, wie willst du dann von mir erfahren, wo die Kinder sind? Das ist es doch, was du willst! Oder?“

Der Schatten kicherte und Lev begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte.

In seinen vor Schreck geweiteten Augen spiegelte sich das immer blasser und kälter werdende Gesicht der Fremden.

Das warme Blut quoll Lev nicht nur in die Jackenärmel, sondern auch in seinen Schoß.

„Aber ich werde dich töten und noch nicht einmal deinen toten Körper werde ich zu ihnen bringen.“, sagte die Stimme. „Versprochen!“

Weiter mit Teil (6)

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