Kinderfänger (6)

Showdown!

Anfang verpasst?

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Hier geht es zu Teil (5)

Lev hatte oft gehört, dass man sagte, in den Augen könne man die Seele eines Menschen sehen. Oder man könnte in den Augen Gedanken lesen. Er hatte es mal versucht in den Augen eines Mädchens. Sie hatten in seinem Zimmer nebeneinander auf dem Bett gesessen. Und er hatte ihr ganz tief und vor allem intensiv in die Augen geschaut. Eine unglaublich lange Zeit hatten sie nichts anderes getan. Aber je länger er geschaut hatte, umso mehr hatte die magische Faszination für die Augen abgenommen. Er hatte auf die Farben der Iris geachtet, auf die Spiegelung seines Gesichts in ihrer Pupille. Er hatte die gesprenkelten Flecke auf der Regenbogenhaut bewundert. Ja, es sah wirklich aus, als ob man in ein komplexes Bild des Universums schauen würde, auf eine gläserne, glänzende Fläche, unter der ein glänzender Funken Leben sich versteckt hielt. Aber mit jeder Sekunde wurde ihm weniger Seele sichtbar, weniger Gefühle. Er hatte seitdem immer gedacht, dass es eine große Lüge wäre, die Augen als Tür zur Seele zu bezeichnen.

Die Augen der Fremden jedoch, aus denen das Leben in Sekunden wich und die ihm entgegenblickten, waren anders. Er spürte ihren sich hebenden und senkenden Körper, aus dem die Kraft völlig gewichen war. Und er sah zu, wie sich das Gläserne in den Augen aufzulösen begann und zugleich ein wahrhafter Blick in eine Seele sich öffnete. Wenn das Leben aus dem Körper weicht, ergeben die Augen endlich einen Sinn, dachte er bitter.

„Ich dachte …“, flüsterte er und brach ab, weil ihre Augen ihn zum Schweigen ermahnten.

Schwach leckte sie sich mit der Zungenspitze über den trockenen Mund und flüsterte: „Ich bin es nicht.“

Er nickte unmerklich und hoffte, sie konnte in seinen Augen lesen, dass er es jetzt wusste und dass er begriffen hatte, wie groß sein Fehler gewesen war.

„Autoschlüssel.“, hauchte sie. Er tastete zitternd mit der linken Hand an ihrer Tasche und schaffte es, den Autoschlüssel hervorzuziehen.

„Gefährlich.“, machte sie. „Lebensgefährlich.“

„Der Kinderfänger ist selbst ein Kind.“, flüsterte Lev ihr ins Ohr.

Sie brachte es fertig, mit dem Kopf zu schütteln. „Kein Kind. Sieht nur – so aus.“

Mit der flachen Hand schob sie ihre Waffe über den Boden zu ihm zurück. „Jetzt bist du dran.“, sagte sie.

Das Schweigen wurde übermächtig.

Sie sackte noch weiter in sich zusammen. Ihr Kopf kippte ein Stück auf ihn zu. Die Augen, noch immer offen, starrten aus dem Tod zu ihm in die Augen hinein. Die Pupillen waren geweitet. Wie galaktisch weit geöffnete Tore. Lev stürzte durch sie hindurch.

Hinter ihren Augen verlor er das Gleichgewicht. Er stürzte, taumelte. Die Nacht, die Fabrikhalle, alles drehte sich. Es kreiselte in ihm, um ihn herum.

Die flüssige Wärme, die ihm durch die Jackenärmel geflossen war, schien nun zu gefrieren.

Er dachte: Sie ist tot. Ein ganz einfacher Gedanke. Ein ganz einfacher Satz.

Sie liegt auf mir. Noch so ein Satz, so eine ganz simple Tatsache.

Der echte Kinderfänger ist irgendwo da draußen in der Dunkelheit. Und er ist auf der Jagd.

Alles war ganz schnell und ganz und gar lautlos vorgegangen.

Der Kinderfänger hatte bestimmt noch nichts von den veränderten Tatsachen mitbekommen.

Er schlich herum und wartete auf ein Zeichen der Frau mit der Waffe, die ihn zur Strecke bringen wollte. Aus zwei Raubtieren waren eins geworden. Aber genau betrachtet, hatte sich die Gefahr verdoppelt, nicht wahr? Das Gleichgewicht war jetzt nachhaltig gestört.

Das Gegengewicht lag tot in seinem Schoß und hatte die Waffe ihm zugeschoben.

„Ich dachte, sie wären die Böse.“, flüsterte er der Toten ins Ohr. Natürlich wusste Lev, dass es nichts brachte. Aber er hatte das Gefühl, dass sie es trotzdem irgendwo noch hören konnte. „Ich dachte wirklich, sie wären die Böse. Und ich musste das Böse doch töten, nicht wahr?“, er blickte auf die Pistole an seiner Seite. „Das wollten Sie auch, hab ich Recht? Sie wollten ihn auch töten. Den Kinderfänger.“

Er erinnerte sich an das Notizbuch in ihrem Auto. An die vielen Kinderfotos.

„Sie haben bestimmt nicht gedacht, dass ausgerechnet ein Kind sie töten wird. Das ist wirklich, wirklich mies gelaufen. Alles total falsch. Ich bin ihnen nachgeschlichen. Ich hab sie beobachtet.“

Lev lauschte, ob irgendwo etwas zu hören war.

„Sie haben schon welche zur Strecke gebracht, hab ich Recht? Haben Sie auch schon Kinder gerettet?“, er erinnerte sich an noch etwas und weil er nicht wusste, ob er jemals wieder die Chance haben würde, musste er seine Fragen jetzt stellen: „Wer ist Gregor? Ich hab seinen Namen gesehen. Er stand auf der Karte. Und R.I.P. direkt dahinter. Rest in Peace. Er ist tot. Ein Kind, dass sie nicht retten konnten? Ihr Partner?“

Die Tote gab ihm keine Antwort. Statt dessen rief die Stimme des Kinderfängers jetzt etwas: „Wo treibst du dich rum? Verdammt! Komm schon! Ich mag deine Spiele nicht.“

„Er wird nervös.“, flüsterte Lev in ihr Ohr. „Das ist gut, oder?“

Der Kinderfänger lachte: „Das hier ist jetzt mein Revier. Ich fühle mich wohl hier.“

Lev schob sein rechtes Bein unter ihren Beinen hervor. Sie rutschte ihm nicht weit vom Schoß, weil er sie ja mit sehr gutem Griff am Rücken festhalten konnte. Langsam befreite er dann auch sein linkes Bein und nun musste er nur noch sehen, wie er aufstehen und sie lautlos hinlegen konnte.

„Die Arbeit macht mir Spaß.“, flötete die Stimme. Sie hatte einen Ton angeschlagen, der ganz nach einer nebensächlichen Plauderei klang. Aber Lev konnte trotzdem die Angespanntheit als hintergründiges Zittern in der Stimme heraushören. „Das Leben ist so schön friedlich hier. Die Kinder sind unvorsichtig. Die Erwachsenen blind. Jeder sieht nur das, was er gewöhnt ist zu sehen. Jeder begreift nur, was er begreifen will. Ein wunderbarer Nährboden für solche wie mich.“

Lev wand sich unter ihr heraus. Er legte sie auf den Rücken und ließ das Messer zurück.

„Aber das weißt du ja. Du hast dich ja auch eine Woche lang sehr, sehr gut zwischen den Dorfbewohnern versteckt. Ein schönes Auto hast du da übrigens.“, er lachte wieder und Lev nahm die Waffe an sich. Geduckt drückte er sich in die Schatten und arbeitete sich ans andere Ende des Ganges vor. Er ließ die Stimme hinter sich und achtete darauf, dass er dem Kinderfänger ja nicht entgegen kam. „Ich werde es mir nehmen, wenn ich fertig bin, ist das ok für dich?“

Am anderen Ende fand Lev eine halb geöffnete Bürotür. Hastig schlüpfte er hinein und sah sich um. Es war noch dunkler hier drin. Nur mit Mühe konnte er ein paar Aktenschränke, einen Schreibtisch und zwei Bürostühle ausmachen.

Vorsichtig stand er auf und blickte durch eine schmale Glasscheibe in den Maschinenraum hinaus. Vor ihm, auf dem Schreibpult, war die Steuerungseinheit für die Maschinenanlage. Hier liefen alle Stränge von draußen zusammen. Wenn jemand wollte, dass eine Zeitung gedruckt wurde, musste er zu allererst hier drin ein paar Knöpfe drücken.

Der Anblick der Knöpfe auf dem Bedienfeld machte Lev klar, dass er keinen Plan hatte.

„Redest du nicht mehr mit mir?“, die Stimme war auf einen Schlag erschreckend nah. Lev erstarrte. Und direkt vor seinen Augen erschien der Schatten wieder. Der Kinderfänger stand direkt vor ihm. Nur eben auf der anderen Seite der Fensterscheibe. Er wandte Lev den Rücken zu. Mit einer Bewegung, so fließend als bestünde er aus nichts als Rauch, schob sich der Kinderfänger an ihm vorbei und Lev erkannte, dass er vorhatte, in den Flur zu gehen, in dem er die Leiche zurückgelassen hatte.

Hilflos musste er alles mit ansehen.

„Redest du nicht mehr mit mir?“, wiederholte die Stimme. „Rede mit mir. Bitte. Ich fühle mich sonst so allein. Wo bist du? Wo -?“, die Stimme brach ab.

Es brauchte nicht viel Fantasie, um zu erahnen, was in der Dunkelheit auf der anderen Seite der Scheibe vor sich ging.

Es klang jedenfalls wie eine Mischung aus Klicken und Kichern.

Er hat sie gefunden, dachte Lev. Er redet nicht mehr mit ihr, weil er sie gefunden hat. Er sieht, dass sie tot ist. Jetzt fühlt er sich frei und sicher und dann, auf den zweiten Blick, erkennt er, dass es ja noch jemanden hier geben muss. Eine Unbekannte in seiner Rechnung. Er sieht sich panisch um. Wirft ungläubig und irritiert seine Blicke durch die ganze Dunkelheit hindurch. Er kann nichts sehen. Und er weiß damit nichts anzufangen. Ist da noch jemand hinter ihm her? Er dreht sich vorsichtig auf der Stelle, überlegt. Seine Gedanken rasen. Das Raubtier, das keine Witterung aufnehmen kann, aber begriffen hat, dass es da eine Jagd geben wird. Die Frage: wer ist der Jäger?

Levs Blick hatte sich auf eine kleine, weiße Schachtel gerichtet, die in greifbarer Nähe vor ihm lag. Seine klammen Finger zitterten so extrem, als ob sie schon längst begriffen hatten, dass es überhaupt keine Chance gab, diese Nacht zu überleben.

Das sind Zigaretten, nicht wahr?

Es war vollkommen absurd. Auf einmal hatte er das unbändige Verlangen nach dem blauen Gift. Er streckte die Hand danach aus und stellte sich dabei weiter vor, wie der Kinderfänger draußen die komplette Lage neu abschätzte.

Vielleicht ist die Schachtel leer und alles wird gut.

Levs Finger wurden schlagartig ruhig, als sie das Päckchen berührten. Er packte zu, quetschte die Packung und hoffte inständig, dass sie leer seinem Druck nachgeben würde. Aber natürlich war sie randvoll.

Willst du wirklich jetzt eine rauchen? Jetzt, in der Dunkelheit einen kleinen Lichtfunken …

Unter dem Tisch, dachte Lev. Er wird mich nicht sehen, wenn ich unter dem Tisch bin.

Das laute Klicken echote durch die riesige Halle.

Lev zog das Päckchen an sich und rutschte sofort unter den Schreibtisch. Mit den Füßen zog er sich einen Bürostuhl heran.

Dann, eingepferscht in der engsten, dunkelsten Nische, zündete er sich seine Zigarette an.

Der Rauch strömte in die hohle Kammer seines Körpers. Sie flutete und beruhigte ihn. Endlich hörten seine Finger auf zu zittern. Endlich wich die Kälte. Jetzt erst spürte er, wie bis zum Zerreißen angespannt seine Haut gewesen war und wie laut das Blut in seinen Ohren gepocht hatte.

„Vergiss es! Viel Spaß beim Sterben.“, die Stimme der Fremden donnerte durch ihn hindurch. Das war es, was sie bei ihrem ersten Zusammentreffen gesagt hatte, nicht wahr? Viel Spaß beim Sterben.

Sie hatte das Rauchen gemeint.

Oder nicht?

„Jetzt bist du dran.“, damit hatte sie ihm die Waffe zugeschoben. Die Waffe, die jetzt in seinem Schoß lag und auf die er beide Handflächen gelegt hatte.

Die Zigarette rauchte sich wie von selbst. Sie glitt in ihn hinein, schrumpfte an seinen trockenen, klebrigen Lippen. Genauso klebte die Waffe an ihm.

Lev tastete nach seinem Feuerzeug, um sich noch eine Zigarette anzustecken. Er wusste, dass er das Feuerzeug in seine Hosentasche gesteckt hatte. Aber dort berührten die Finger nur ein Stück Papier.

Kein Papier.

Ein Foto. Toms Foto; der selbe Tom, der davon geredet hatte, dass es nicht für jede Angst einen Lichtschalter gab. Verdammt richtig, Tom. Du kannst nicht jedes Monster aus dem Keller vertreiben, indem du das Licht einschaltest. Den wahren Monstern begegnest du im Dunklen, aber du verlierst sich nicht im Licht. Soll ich es dir beweisen, Tom? Es ist ganz einfach.

Lev schob den Stuhl zur Seite und kroch aus seinem Versteck. Von dem Klicken oder dem Schnaufen des Schattens dort draußen war nichts zu hören.

Vielleicht hatte er sich davongemacht. Wenn er Lev nicht hatte wittern können, wenn Lev sich nicht bemerkbar machte, dann gab es vielleicht gar keinen Grund, weiter hier in der Halle zu lauern. Dann war vielleicht Flucht die beste Alternative.

Lev brauchte nicht lange zu suchen. Er hatte die abgebrannte Kippe vollkommen vergessen und noch an seiner Lippe kleben, als er den großen Schalter auf dem Bedienfeld umlegte.

Der Schalter rastete mit einem lauten Schlag ein. Eine Maschine jaulte auf. Wie hunderte kleine Lichtblitze flackerten die Neonröhren an der Fabrikhallendecke auf. Es wurde mit einem Schlag taghell und mit dem eingeschlagenen Licht dröhnten und donnerten, quietschten und rauschten die Götter der Industrie durch die Halle. Über die an der Decke laufenden Bahnen flogen die Zeitungen hinweg. Sie flatterten wie unzählige Fähnchen vorbei und versprühten den Geruch von Druckerschwärze.

Lev sah das Papier aufflattern. Wie von einem unsichtbaren Tornado ergriffen wirbelte das Papier von leeren Rollen in das Druckwerk und daraus hervor und einmal rund um die ganze Halle. Über Förderbänder liefen Paketstapel aus bedruckten Zeitungen Richtung Ladezone. Das einzige Förderband, das still stand, war in der Mitte der umherwirbelnden Zeitungsfahnen. Der Kinderfänger stand darauf wie in dem Auge eines wütenden Orkans. Die fliegenden Zeitungen sorgten offensichtlich für genug Luft. Es packte seinen Umhang und bauschte ihn auf. In halb gekrümmter Haltung stand er auf dem Fließband mit dem Rücken zu Lev.

Er sah größer aus als er es vorhin im Dunklen abgeschätzt hatte. Größer, gefährlicher und unwirklicher. Als er sich zu Lev umdrehte, war es, als flackerte die Wirklichkeit durch seinen Körper. So als habe die Realität in seiner Nähe Empfangsschwierigkeiten. Das Klicken ging eindeutig von ihm aus. Es war jetzt so laut, dass es den ganzen Maschinenlärm übertönte und es klang wütend.

Levs Herz setzte einen Schlag aus.

Es war tatsächlich Toms Gesicht, Lev hatte sich nicht von der Dunkelheit täuschen lassen. Aber er hätte sich von dem ersten Eindruck, dieser ersten Sekunde täuschen lassen. Denn er spürte bereits, wie seine Muskeln sich vor Erleichterung anspannten. Er sah sich bereits nach draußen stürzen und nach Tom rufen. Ja, für diese eine Sekunde durchfuhr Lev der Gedanke, dass es doch alles so war, wie von Anfang an gedacht: die Fremde war der Kinderfänger und sie war tot. Tom hatte unabhängig von ihm eine Falle gebaut und jetzt gab es keinen Grund mehr, Katz und Maus zu spielen. Es gab nur noch den glücklichen Weg nach Hause in ein formvollendetes Happy End.

Nur ging diese eine Sekunde wie mit einem Hammerschlag vorbei.

Das, was Toms Gesicht hatte, hatte nicht seinen Körper.

Er war groß wie ein Erwachsener, aber vornüber gekrümmt wie einer, der schon viel zu alt geworden war. Er trug einen feuerroten, merkwürdig wabernden Anzug unter dem schwarzen Umhang. Dann packte wieder ein Luftstoß an dem dunklen Stoff und Lev stolperte panisch etliche Schritte zurück.

Die Realität hatte tatsächlich ihre Aussetzer.

Das, was Lev für rote Kleider gehalten hatte, war der Anblick von offen gelegten Muskeln. Vom Gesicht abgesehen, zog sich über den ganzen Körper des Kinderfängers kein Stück Haut. Der Anblick erinnerte ihn an ein Plastinat, das sie in der Schule in einer Vitrine im Biologiesaal hatten. Das Ding, was auch immer es war, sprang vom Fließband und stürzte in die Richtung der Büroräume. Jetzt musste dem Kinderfänger klar geworden sein, dass sich definitiv noch jemand hier verbarg und es gab nicht viele Möglichkeiten, wo sich die Beute versteckt halten konnte.

Während er rannte, flatterte der Umhang in merkwürdig steifer Art hinter ihm her. Lev unterdrückte den aufwallenden Brechreiz. Was das Ding da hinter sich her flattern ließ, war nichts anderes als eine ledrige Version seiner Haut.

Es stürzte auf die erstbeste Tür zu, riss sie auf und stürzte in das Büro hinein. Zu Levs Glück war die Wahl dieses Dings auf ein Büro drei Türen entfernt gefallen. Aber das war das sinnloseste Glück, das er je empfunden hatte. Nichts würde das Ding dort drüben aufhalten. Im Gegenteil, es würde von Büro zu Büro stürzen, bis es ihn in seine Klauen bekommen hatte. Aber Lev konnte sich nicht rühren. Unbewegt starrte er durch die Fensterscheibe nach draußen in die Fabrikhalle, wo ihm das Nachbild des Dings noch wie vor Augen stand. Er hatte die Gier und die bluträuberische Jagdlust in Toms Augen erkannt.

Mit einem hasserfüllten und zugleich gewinnsicheren Schrei stürzte das Ding aus dem ersten Büro heraus und sprang krachend durch die Tür in das zweite Büro ohne sich die Mühe zu machen, auch nur kurz inne zu halten, um die Tür zu öffnen.

Das Krachen bebte auch durch Levs Körper. Immerhin drehte er sich nun mehr der Tür zu. Aber mehr als diese Bewegung brachte er nicht fertig.

Der Kinderfänger stieß ein Geräusch von sich, das entfernt wie Toms Lachen klang.

Möbel wurden deutlich hörbar durch die Luft und gegen die Wände geworfen.

Dann schlitterte das Ding wieder zurück in die Halle. Seine Füße glitschten über den Boden hinweg und hinterließen blutige Streifspuren. Mit vorgestrecktem Kopf überzog es Toms jungenhaftes Gesicht mit einem geradezu diabolischen Grinsen. Die Knie beugten sich leicht. Die Muskeln auf seinem Oberkörper bewegten sich. Es sah aus, als würde Wind ein Feld voller Ähren in Wellenbewegungen streicheln. Dann sprang der Kinderfänger in das dritte Büro. Nur noch eine einzige Wand trennte den Jäger von seiner Beute.

Levs Körper hatte vollständig aufgehört zu zittern.

Er bebte.

Lev konnte das Beben gut an der Waffe in seinen Händen erkennen, die sich jetzt hob und auf die Tür richtete. Sie war schwer wie Blei.

„Tom.“, flüsterte Lev.

Ein anderes Wort fiel ihm nicht ein.

Statt dessen antwortete in seinen Gedanken nur wieder die Stimme der Fremden:

„Viel Spaß beim Sterben. Jetzt bist du dran!“

Die Wand vor seinen Augen zerbarst. Es war eine solche Wucht, dass ihm die Holzsplitter wie Granatensplitter vorkamen. Diesmal hatte es sich die Mühe gespart, erst einen Umweg über die Lagerhalle zu nehmen. Es war direkt durch die Wand zu ihm hereingesprungen. Das Maul war grinsend und weit aufgerissen. Toms Gesicht hatte Raubtierzähne. Der Raum war in Sekunden erfüllt von dem Geruch von Blut.

Wahrscheinlich hatte das Monstrum mit viel gerechnet, sogar damit, dass auf es geschossen werden würde. Aber die beiden Kugeln, die Lev instinktiv in seinen Brustkorb absetzte, brachten es doch aus dem Gleichgewicht. Er landete unsanft vor Lev auf dem Boden, verlor das Gleichgewicht und rutschte auf einem Knie an ihm vorbei in die Mitte des Raums.

Lev hatte sich immer gefragt, ob er in einer extremen Notsituation die Ruhe eines Teufelskerls haben würde. Jetzt wusste er es: die Panik war nun endlich in seinem Innern zu einem vorläufigen Höhepunkt gekommen. Aber sie war jetzt so übermächtig, dass sie ihm die Lähmung endlich explosiv löste. Lev riss die Waffe herum, schoss ein drittes Mal – diesmal ging die Kugel daneben, obwohl das Ziel doch direkt vor ihm stand – und er rannte sofort aus dem Büro davon.

Das Ding kreischte zwar, aber es stürzte sofort hinterher.

Lev floh ohne Sinn und Verstand durch die Fabrikhalle. Das Ding brauchte keine zehn Schritt, um aufzuholen und ihn mit einem Sprung in den Rücken von den Beinen zu reißen. Als Lev mit dem Gesicht auf den Boden schlug, konnte er hören, wie die Waffe von ihm wegrutschte.

„Na, wen haben wir denn hier?“, zischte das Ding mit Toms Stimme in sein Ohr. Der dampfend heiße Atem stieß Lev durch den Kragen in den Rücken. Es fühlte sich an, als ob der Teufel selbst ihm auf dem Rücken saß.

Eine krallenbewehrte Hand packte Levs Kopf an den Haaren. Es riss an ihm, drehte ihm den Kopf bis knapp hinter die Schmerzgrenze und dann beugte es sich so über ihn, dass es mit Toms Gesicht in sein Gesicht starren konnte.

„Wen – haben – wir – denn da?“, wiederholte es. Sein Grinsen verriet, dass es Spaß verspürte.

„Was bist du?“, krächzte Lev.

Das Ding lachte schallend. Aber Toms Gesicht veränderte sich und sah gar nicht so glücklich aus. Für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als ob Toms Gesicht tatsächlich wieder dem guten alten Tom gehörte, dem besten Freund aus Kindertagen. Nur traurig im Blick. Unendlich traurig.

Nein, schoss es Lev durch den Kopf. Das war keine Trauer. Das war etwas Tieferes, etwas, das vielleicht gar keinen Boden am Ende des Abgrunds hatte. So etwas wie Hoffnungslosigkeit.

„Was hast du mit den Kindern gemacht?“, Lev bekam unter dem Druck des Dinges kaum noch Luft. Aber die Worte kamen leichten hervor als die Luft zum Atmen.

„Was hast du mit den Kindern gemacht?“, äffte es. Ein merkwürdiges Zucken ging durch Toms Gesicht. Für einen kurzen Moment sah es aus wie ein Baby, dann wie ein drittes Kind. Am Ende wieder wie Tom.

„Du hast sie gegessen!“, das letzte Wort kam nur noch gepresst hervor. Jetzt war keine Luft mehr zum Sprechen in Levs Torso. Trotzdem formten seine Lippen noch das Wort „Monster!“

Das Ding lachte, es fletschte seine Zähne.

Mit seinen klebrigen Fingern strich es Lev die Haare aus der Stirn. Es packte ihn am Kinn und bog sich den Körper seines Opfers unter der eigenen Last so zurecht, dass er ihm ohne Anstrengung in die Kehle hätte beißen können. Levs Knochen knackten und drohten zu zersplittern.

Toms Mund öffnete sich ein Stück zu weit. Levs Sicht verzerrte sich. Die Hitze schlug ihm ins Gesicht und raubte ihm die Sinne.

Auf einen Schlag ließ der Kinderfänger ihn los und er klatschte haltlos zurück auf den Boden. Wie von einem harten Stoß getrieben, stürzte das Ding von seinem Rücken und schlitterte über den Boden.

Lev nahm nur wahr, dass alles sich am Drehen war. Er glaubte zu hören, wie jemand „Steh auf!“ zu ihm sagte. An diesem Gedanken hielt er sich krampfhaft fest und zerrte sich daran ins Bewusstsein zurück. Irgendwie war er tatsächlich auf die Knie gekommen. Und in dieser Haltung war er unter vollkommener Kontrolle seines Unterbewusstseins fort gerückt von der Stelle, an der der Kinderfänger ihn sich hatte einverleiben wollen.

Als genug Kontrolle wieder zu ihm zurückgekommen war, richtete er sich auf und stolperte weiter.

Er hörte ein Geräusch oberhalb seiner Laufrichtung. Als Lev träge den Kopf drehte, erkannte er das Monster an den Zeitungen hängen, die an der Deckenschiene abtransportiert wurden. Toms Gesicht starrte zu ihm herunter und fauchte ihn an. Doch schon im nächsten Augenblick waren sie in die Höhe der großen Zierfensterscheibe gekommen und mit einem übermenschlichen Sprung setzte das Ding durch das zerberstende Glas ins Freie.

Lev stürzte kraftlos über die eigenen Schritte und stürzte in ein paar Arme. Doch anstatt, dass es ihn wirklich gestützt hätte, brach die Gestalt mit Lev gemeinsam zusammen. Als Lev aufsah, erkannte er die Fremde. Sie hatte noch immer das Messer im Rücken und ihre Augen sahen immer noch tot und seelenlos aus. Aber sie bewegte sich noch und drückte Lev von sich fort.

„Das war dumm.“, sagte sie mit kaum noch sicherem Klang in ihrer Stimme.

„Ich dachte, sie wären tot.“

„Ich bin nicht weit davon entfernt.“

„Haben Sie mir das Leben gerettet?“

„Nein.“, sagte sie.

Lev erkannte die Pistole zwischen ihren Händen.

„Sie haben geschossen.“

„Wenn ich ihn getötet hätte“, es rann ihr jetzt Blut aus dem Mund. „dann hätte ich dir das Leben gerettet.“

„Ist er weg?“

„Nein.“

Ihre Faust packte den Stoff seiner Jacke an der Schulter und zog ihn zu sich heran. „Er ist verjagt. Ich schätze – aber ich bin mir nicht sicher – ich schätze“, ihre Pupillen drehten sich. Sie drohte die Konzentration zu verlieren. Aber es schien zu wichtig zu sein, was sie ihm zu sagen hatte. Auch wenn es alle Lebenskraft aufzubrauchen schien. Ihre Zähne knirschten, als ob sie jeden Augenblick abbrechen wollten. „Ich schätze, er wird eine Jagdpause – aber wenn er zurück kommt …“

„Was ist es? Das ist doch kein Mensch. Seine Haut?“

Sie ignorierte seine Frage: „Er wird wütender sein. Wenn er wieder kommt … nur eine Chance.“, wieder drehten sich die Augen. Ihre Hand ließ ihn endlich los und sie sackte zusammen. Diesmal lag sie vor ihm auf dem Bauch. Ihre Haare sahen furchtbar aus. Sie waren verklebt von Blut.

Vorsichtig berührte Lev die Fremde. Sie rührte sich nicht. Diesmal fühlte er ihren Puls. Er nahm sich die Zeit, sie ganz genau zu untersuchen. Die kalte, blasse Haut, die sich langsam grau verfärbte.

Lev untersuchte sie so lange, bis es keine Zweifel mehr gab, dass sie diesmal wirklich tot war.

Dann nahm er ihr die Waffe ein letztes Mal aus den Händen.

Er wird zurück kommen, dachte Lev.

Und er starrte auf das schwarze Metall, das ihm das Leben gerettet hatte.

Dann verließ er die Halle.

Er musste ein Auto verschwinden lassen, Notizbücher retten. Und wenn er sich richtig erinnerte, musste er im Wagen nach einer Karte suchen. Dort musste er noch das heutige Datum eintragen. Und ein Name. Und dahinter R.I.P.

Und dann … dann hörte sein Plan einfach auf. In seinem Kopf war alles hinter diesem Augenblick so leer wie eine ausgerauchte Zigarettenschachtel.

Nicht für jede Angst gibt es einen Lichtschalter, Lev. Kluge Menschen wissen das.

Noch einmal drehte er sich um, starrte in die Halle zurück, die so aussah, als ob alle Maschinenteile sich nur auf eine Leiche hin bewegten.

Dann öffnete er die Tür ins Treppenhaus.

Das Licht sprang automatisch an.

Und Lev verließ die Zeitung in das kälteste Licht seines Lebens.

 

Ende

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