1 – Vor Gericht

Ja, das Geringe und Schlechte, das kann man in Haufen erhalten Ohne Bemüh’n, schön eben der Weg, ganz nahe, da wohnt es. Vor die Vollendung jedoch haben Schweiß die unsterblichen Götter Hingesetzt; steil steigend und lang ist der Pfad, der dorthin führt, Und voller Steine zuerst; doch hast du die Höhe gewonnen, wird es leicht, auf ihm weiter zu gehen, so schwierig er anfing. (Hesiod) In all dem aufgeregten Lärmen saß Sokrates mit geschlossenen Augen. Die Hände ruhten sanftmütig auf den ...

Sag’s nicht dem Bassisten

"Die Musik ist zu langsam zum Tanzen.", sagte sie mit der koketten Verachtung der Frau für den Fremden, grenzwertig höflich. "Verraten Sie es nicht dem Bassisten, aber der Drummer hat mir versprochen, noch in diesem Lied das Tempo zu steigern." Er zog sie auf eine Art in die Mitte, die ganz von ihrer Abneigung ablenkte. Das Tanzen lenkte sogar sie davon ab. Statt dessen gefiel sie sich einem endlosen Moment, wie sie sich in seinen Pupillen spiegelte, während sie sich um sich selbst drehten ...

Delphi

Betrittst du das Orakel von Delphi, steht über der Tür, du sollst dich selber erkennen.
Über dem Hinterausgang, ganz kleinmütig aufgehängt, steht: " Verlasse das Orakel so, wie du es vorgefunden hast."

Die Wölfe der Arai

Die Wölfe der Arai überwintern in den ausgehöhlten Leibern toter Schneeelefanten. In den Kadavern lässt sich die Wärme gut speichern. Von außen tarnt das weiße Fell der monströsen Tiere die Wölfe. Außerdem verbergen die Kadaver sehr effektiv den lebendigen Geruch der Wölfe. Ihre natürlichen Feinde, die Nacktbären zum Beispiel, wittern und meiden das tote Fleisch. In den Schneeweiten des Araigebirges leben zu wenig Aasfresser, als dass die Winter für die Wölfe eine gefährliche Zeit ...

Der Brennnesselsommer (2/2)

Die Freundschaft zwischen Ben und mir war schon etwas eigenartig. Wir triezten uns gegenseitig, beleidigten uns, teilweise erniedrigten wir uns auch. Ben hatte ein Luftgewehr, einmal schoss er mir damit sogar in den Rücken. Auf große Distanz zwar und es hinterließ nicht mal einen blauen Fleck, aber trotzdem: welche Freunde tun so was? Für all solche Dinge revanchierte ich mich kurz später immer gebührend. Auf sein Luftgewehrangriff folgte ein Tag, an dem wir den Keller seines Vaters aufräumen ...

Der Brennnesselsommer (1/2)

Inspiriert von wahren Begebenheiten   Direkt hinter meinem Elternhaus begann die große unerforschte Weite. Und als Ben sie zum ersten Mal sah, war er nicht mehr zu halten gewesen. Bei seinem zweiten Besuch hatte er bereits seine Machete dabei und bei seinem dritten stand er vor der Haustür in kompletter Uniform. Er war ein militärbegeisterter Junge, der das Strahlen in die Augen kriegte, wenn irgendwo etwas auch nur entfernt nach Uniform aussah. So komplett in grünem Camouflage, mit ...

Der weinende Junge (2/2)

Und damit, schloss sie den ersten Teil ihrer Erzählung, hatte alles dann begonnen: Es dauerte nicht lange, bis man mich, dümmer noch, das Bild für den Brand verantwortlich machte. Über die lokale Presse und dank eines schlecht recherchierten Artikels im Saarsteinboten von einer Reporterin namens Su Höpfner verbreitete sich das Gerücht, das einzige, was bei diesem Brand nicht zerstört worden sei, wäre das Gemälde des weinenden Jungen. Von da aus war es nur noch ein geringer Schritt zu der ...

Der weinende Junge (1/2)

Southern trees bear strange fruit Blood on the leaves and Blood at the root (Billie Holiday) Seit Caroline Berger verschwunden ist, gibt es für mich keinen richtigen Schlaf mehr. Ich hatte die letzten Tage mit ihr verbracht und ich hatte das Schreien und das Weinen gehört, als die Katastrophe über sie gekommen war. Obwohl die Polizei überall gesucht hatte und Carolines Familie sogar über die Sozialen Netzwerke des Internets Bilder von ihr in die Welt verteilt hatten, konnte sie nicht gefunden ...

Der Fürst

Vorwort Mein Großvater erzählte mir immer gerne von früher. Und ein paar seiner Geschichten schrieb ich mir anschließend heimlich auf. Dafür hatte er mir ein kleines Notizbuch geschenkt, eine schwarze Kladde mit ganz dickem Einband und zart karierten Seiten. Als ich etwa fünfzehn Jahre war hatte ich eine seiner Geschichten auf eine Art aufgeschrieben bekommen, dass ich richtig stolz auf mich war. Ich hatte hier nämlich das Gefühl, dass mir etwas Besonderes gelungen war. Es war das erste ...

Der Siebte Himmel (2/2)

„Ich hab mal mit meinem besten Freund geschlafen.“, sagte sie unvermittelt. „So beginnt man eigentlich keine Geschichte, nicht wahr? So enden Geschichten vielleicht. Aber hier ist es anders herum. Alles beginnt damit, dass ich mit ihm geschlafen habe, obwohl ich nicht in ihn verliebt war." ...