Sturmzeit (1)

 

Üble Typen gibt es wie Sand am Meer.

Und auf jeden kommt eine Frau, die eine Geschichte zu erzählen hat, weil er irgendwann mal versucht hat, ihr seine Geschichte auf die Haut zu schreiben. Mit blauer Tinte, so nannte zumindest Quinn es, wenn Drafi sie schlug: mit blauer Tinte schreiben.

Im Spiegel waren die Flecke verdammt dunkel. Zumindest in dem kaltweißen Neonlicht der Autobahntoilette.

Es gibt verschiedene Gründe, warum Männer ihre Frauen schlagen. Gerri, zum Beispiel schlug seine Jeannette immer, wenn er einen miesen Tag gehabt hatte. Das Schlagen war für ihn eine Art Therapie. Um vor lauter Frust nicht verrückt zu werden.

Dann war da Steven. Der war auch kein schlechter Mann. Bei ihm war es der Alkohol. Er schüttete sich die Aggressionen regelrecht in den Hals. Die Flüssigkeit kam irgendwann als Schweiß und Urin aus dem Leib. Aber die Aggression steckte fest. Manchmal Tage, meistens Stunden.

„Er ist ein guter Mann. Mit einem echten Herz.“, pflegte Joselyn zu sagen. „Der scheiß Alkohol. Da steckt sein ganzer Hass drin.“

Aber Drafi war anders. Wann immer Josy und Jeanny ihre Geschichten erzählten, die wie Entschuldigungen klangen, aber eigentlich Erklärungen waren, dachte Quinn: meiner nicht. Und es schauerte sie wirklich jedes Mal. Drafi war wirklich anders. Er schlug grundlos, unberechenbar und aus keiner anderen Quelle heraus als aus einer willfährigen Laune.

Das Licht über den Spiegeln flackerte, ging aus und statt dessen flammte kaum sichtbar über der Tür das grüne Notlicht an. Quinn blieb regungslos stehen und fürchtete sich vor dem Bewegungssensor.

„Hey“, zischte es auf einmal von draußen. „Brudi, alles ok?“, es war Josy. Sie nannte jeden, den sie liebte Brudi. Und auch, wenn Quinn am Anfang gedacht hatte, dass Josy eine Menge Menschen lieben musste, hatte sie inzwischen raus, dass es nur eine auserlesene Handvoll waren, bei denen ihr Brudi diesen einen besonderen Klang hatte.

„Was denkst du denn?“, zischte Quinn zurück. Als ob auch ein lautes Geräusch den Sensor aktivieren könnte.

„Ich wird nervös hier draußen.“, sagte Josy. „Und es riecht nach Unwetter.“

Quinn dachte darüber nach, ob das ein Code sein sollte. Ob die Männer sich merkwürdig verhielten, sich Gewalt anstaute. Frauen wie Josy, Quinn und Jeannette hatten inzwischen ein Gespür für die Ruhe vor der Gewalt. Es war, als konnte man es wittern. Das bildeten sie sich zumindest ein.

Dann erinnerte sie sich an heute Morgen und die schweren, schwarzen Wolken, die sich wie Fäuste zusammengeballt hatten. Und sie beschloss Josys Nervosität wirklich allein auf das Wetter zu beziehen.

„Bin gleich da.“, versprach Quinn. Es kam keine Antwort mehr. Vermutlich drückte sich Josy draußen wieder bei den Autos herum.

Als Quinn die Toilette verließ, konnte sie es auch spüren. Der Wind war unmerklich stärker geworden. Er trieb jetzt in kleinen, verwirbelten Bahnen trockenes Laub an der Bordsteinkante entlang.

Sie ging quer über den ganzen Parkplatz, zwischen den LKW-Reihen vorbei zu dem schwarzen Transporter mit den breiten, weißen Streifen.

Drafi saß am Steuer, Joselyn stand bei ihrem Steven und ließ sich von ihm in aller Öffentlichkeit begrapschen. Jeannette stand einsam an der Seite und rauchte ihre Zigarette. Ihr Gerri lehnte mit dem Rücken an dem Transporter und überprüfte sein Handy.

„Wir liegen gut in der Zeit.“, sagte er zu Quinn, als sie einstieg. Es war ein unsinniger Satz, weil es keine Zeit gab, in der man hätte liegen können. Sie fuhren in einen Urlaub. Es gab keinen Zeitdruck und keine Timeline. Es gab genau so viele Leute am Ziel, die sie erwarteten, wie es Menschen zu Hause gab, die sie in den nächsten Tagen vermissen würden: nämlich keine.

„Sagst gar nichts dazu.“, gab er zurück und drehte sich mit seiner knirschenden Lederjacke zu ihr zurück. Es waren zwei Dinge, die Quinn nicht an Gerri mochte: die trockenen Lederjacken, die jede seiner Bewegungen untermalten und sein rechtes Auge. Es sah aus, als ob Gerri in dem rechten Auge ständig Blut stehen hatte. Das war eine Augenkrankheit, die er seit seiner Kindheit mit sich herumzog. Und wenn man ihn danach fragte, dann erzählte er, dass dieses Auge Schuld daran war, dass sein Leben so verdammt mies in die Brüche gegangen war.

„Das Auge da hat mich immer runtergezogen wie ein Anker.“, sagte er oft. Aber jetzt war nicht der beste Augenblick, ihn auf sein Auge anzusprechen.

„Mir war schlecht.“, log Quinn.

„Hast du was getrunken?“, fragte Drafi.

„Fahr einfach. Ich mach mir das Fenster ein wenig auf und streck die Nase raus.“

„Wie ein Hund.“, kicherte Gerri.

„Wird mir helfen.“, log Quinn weiter.

Die Männer saßen auf dieser Fahrt vorn, die Frauen hinten. Drafi fuhr, Gerri war Beifahrer, Steven lag quer auf der ersten Rücksitzreihe. Direkt dahinter saßen die Frauen. Und hinter ihnen nur noch das viele Gepäck.

Die Frauen untereinander redeten kaum. Die Männer dafür umso mehr. Gerri unterhielt alle mit seinen Witzen und seinen Sprüchen. Er hatte Namen für die anderen Autofahrer, brüllte ihnen beim Überholen Gemeinheiten hinterher. Was Jeannette je an ihm gefunden hatte, war Quinn ein Rätsel. Er hatte immer etwas fettige Haare, trug eine Brille, die nur unten einen Rand hatte. Seine Oberarme waren tätowiert, aber mit anzüglichen Bildern. Er hatte ganz blasse Haut. Und die war ganz weich. Wenn man ihn berührte, fühlte es sich an, als ob man eine widerstandsfähige Variante der Haut von kalt gewordenem Kakao berühren würde.

Er hatte auch mal im Gefängnis gesessen, das hatte Jeannette ihnen erzählt. Entweder wegen Ladendiebstahl oder wegen Körperverletzung. Beides kam in der Geschichte vor, aber nur eins davon hatte ihn in damals den Knast geführt.

Drafi hatte doch bestimmt auch gesessen, hatte Josy daraufhin gefragt. Aber nein: Drafi war zu gerissen, um eingebuchtet zu werden. Er war noch nicht einmal bis in ein Polizeirevier vorgedrungen. Angeblich hatte er auch nur ein einziges Mal Handschellen getragen. Das war mit sechzehn oder siebzehn gewesen. Jedenfalls war es nur eine Geschichte von „Zur falschen Zeit am falschen Ort“. Eine Maidemo in Köln oder Dortmund, so genau wusste sie es nicht mehr. Am Bahnhof hatte es jedenfalls eine Massenschlägerei gegeben und die Polizei hatte willkürlich Leute verhaftet. Drafi hatte auch kein schlechtes Wort für die Polizisten übrig. Er sagte, dass es so chaotisch gewesen wäre, dass er auch einfach jeden verhaftet hätte. Freilassen kann man immer noch Leute. Aber jeder, der Handschällen auf dem Rücken trägt, ist erstmal nicht dazu im Stande, einem anderen die Zähne aus dem Maul zu schlagen.

Sie fuhren an einer am Rand stehenden Autobahnpolizei vorbei und Gerri rief ihnen das erwartbare: „Bullenschweine“ im Vorbeifahren zu. Drafi hätte die Polizei nicht mal Bullen genannt, wenn sie ihm dumm gekommen wären.

Wenn man die beiden Männer so betrachtete, dann passte Steven so richtig gar nicht in diese Runde. Steven war die Variante Milchbübchen. Er sah aus wie der groß gewordene Junge von den Schokoladenriegeln. Er hatte ein bezaubernd einfältiges Lächeln, strahlende, blaue Augen, in denen man wie in einem Meer aus dem Werbeprospekt versinken konnte. Außerdem war er immer gut angezogen und übertrieben höflich.

Josy musste damals geglaubt haben, dass er für sie wie ein Ausweg aus einem bis dahin beschissenen Leben sein musste.

Aber sorry, Josy, hätten sie sich damals schon gekannt, dann hätte Quinn es ihr erklären können: Scheiße zieht Scheiße an. Und sonst nichts.

Es war ein Gesetz der Natur, dass du dich noch so sehr anstrengen kannst, aber wenn du groß wirst in der Welt der Asozialen und Verlierer, dann wirst du dich auch maximal in den König der Asozialen und Verlierer verlieben. Und der wird dir zeigen, was du seit deiner Geburt schon weißt: dass dein Platz auf dieser Welt unverrückbar ist. Letzter Preis!, würde Gerri sagen. Weiter wird nicht verhandelt.

Steven mochte aussehen wie aus einer besseren Welt, weil er sich anzog und bewegte wie die netten Jungs in den deutschen Fernsehserien. Er hörte sogar die weichgespülte Liebjungsmusik und redete mit einer sanften Stimme, als ob er als Baby immer nur Kreide gefressen hätte. Aber hinter dem schönen Gesicht steckt die gleiche Scheiße wie überall.

Quinn konnte sehen, dass Josy sich am liebsten unterhalten hätte. Im Schweigen fühlte sie sich nicht wohl. Aber auch Josy war nicht so dumm, wie viele glaubten. Sie wusste sehr genau, dass es kein Thema auf dieser Fahrt gab, über das es sich zu reden lohnte.

Sei stark, dachte Quinn und wäre dankbar gewesen, wenn sie es ihrer Freundin hätte mental zusenden können. Sei stark, verdammt noch mal.

Starksein erfordert Kraft. Es bedeutet nämlich nicht, dass man sich um andere kümmert. Es bedeutet, dass man sich selbst aushält. Als ob man von Innen gegen die Körperwand drückt, um dem Leben entgegenzuhalten. Ein Leben, das dir ununterbrochen zusetzt, gegen dich anstürmt und dir im Innern deines kleinen, zerbrechlichen Leibs das Gefühl gibt, von Tag zu Tag kraftloser zu werden. Das war in Wahrheit Kraft: dass man aushält. Aber Leute wie Drafi, Gerri und Steven verstanden das nicht. Sie waren der Sturm, der gegen Quinn, Jeannette und Josy tobte. Drei Männer gegen drei Frauen.

Eine einfachere Formel hatte es auf dieser Welt nie gegeben, dachte Quinn.

Josy legte ohne hinzusehen ihre Hand auf Quinns Knie. Dafür legte Quinn ihre Hand auf Josys. Und dann hielten sie heimlich Händchen wie Schulmädchen bis sie am Ziel ankamen.

Erst dann sah Quinn, dass Josys andere Hand Jeannettes Linke hielt.

Das gab ihr den vielleicht größten Schauer seit langem.

Draußen regnete es inzwischen in Strömen. Sie hatten ihr Ziel erreicht: eine kleine Pension in einem mittelalterlichen Dorf im Pfälzer Wald. Die strengen Burgruinen wirkten viel bedrohlicher als in den Prospekten.

„Wir sind im Mittelalter, Leute!“, verkündete Drafi stolz. „Macht, dass ihr rein kommt. Das Gepäck holen wir später. Vielleicht hat der Regen ein wenig Mitleid mit uns und beruhigt sich dann noch etwas.“

Am Eingang stand eine Ritterrüstung, die warnend die Hellebarde vorstreckte. Die anderen gingen bereits hinein, als Drafi Quinn grob am Arm packte und zu sich zog. Sein Griff war unbarmherzig und trieb ihr bereits von der ersten Sekunde an die Tränen in die Augen.

„Das ist unser Wochenende.“, sagte Drafi. So, wie er es sagte, gab es kein Missverständnis darüber, wen er mit ‚uns’ meinte. Allein sein Grinsen verriet es, dem die Abfälligkeit folgte, als sein Blick sich endlich auf ihr Gesicht richtete.

„Ich werde es schon nicht versauen.“, sagte Quinn schnell.

„Das wirst du nicht.“, bestätigte er. Er war ein Meister darin, ihr zu drohen. Langsam beugte er sich vor und küsste sie sanft auf die Lippen. Dann wanderte sein Mund zu ihrem Ohr. Die ganze Zeit über, lockerte sich sein Griff um kein Stück Barmherzigkeit.

„Es ist Mittelalterzeit, Schatz. Die Männer haben jetzt das sagen. Es war nett von uns, euch diesmal mitzunehmen, hab ich Recht?“

„Es ist nett.“, keuchte sie. Ihr Blick irrte suchend zum Eingang zurück. Sie hoffte, dass die anderen schon die Pension betreten hatten. Hoffte darauf, dass sie uns Drafi ganz allein im Regen waren.

„Aber es wird genauso laufen, wie es immer läuft. Und ihr werdet uns nicht im Weg stehen.“, er drückte ein wenig fester. Nur genug, um ihr zu zeigen, dass er es konnte. „Keine krummen Dinger. Kein dummes Gerede. Du blamierst mich nicht vor den Jungs, hab ich Recht?“

„Man kann dich gar nicht blamieren.“, sagte Quinn. Ihre Knie gaben nach, aber er erlaubte es ihr nicht, zu Boden zu sacken. Er hielt sie auf den Beinen, als wäre sie nichts als eine grundsätzlich hilflose Marionette.

Jetzt bleckte er die Zähne zum Grinsen ganz dicht vor ihrem Gesicht und er stieß heiß mit seinem Atem das „Ja“ in ihren Mund hinein. „Du hast Recht.“

Endlich ließ er los.

„Komm, ich zeig dir unser Zimmer.“, er legte den Arm um ihre Schulter, als sei alles in bester Ordnung. Über der Pension und hinter den Bergen des Pfälzer Waldes rollte eine Donnerwoge über sie hinweg. Es klang, als brandete der Himmel mit gedämpfter, ruhiger Kraft gegen die bewaldeten Berge an.

Sie warf einen Blick über die Schulter, sah an den Hügeln hinauf die roten Mauern der Burg Trifels. Dann schob Drafi sie in die Pension und in den muffigen Gestank uralter, zu feucht gewordener Wände.

 

Fortsetzung folgt hier

11 thoughts on “Sturmzeit (1)

  1. Pingback: Sturmzeit (3) | Odeon

  2. Pingback: Sturmzeit (2) | Odeon

  3. Pingback: Sturmzeit (5) | Odeon

  4. Pingback: Sturmzeit (4) | Odeon

  5. Pingback: Sturmzeit (6) | Odeon

  6. Pingback: Sturmzeit (8) | Odeon

  7. Pingback: Sturmzeit (9) | Odeon

Schreibe eine Antwort zu hanneselch Antwort abbrechen